Sind wir in die Irre gegangen

                                Sind wir in die Irre gegangen?

 

                        Überlegungen aus Anlaß von 50 Jahren Darmstädter Wort

 

(Gepupliceerd in: Horst Dohle / Joachim Heise / Rimco Spanjer, Der Geschichte ins Gesicht sehen. Zum 80, Geburtstag von Bé Ruys, Rothenburg, 1997)

 

Es ist Januar 1997. Vor mir liegt ein Artikel der belgischen Zeitschrift Kering. Er ist geschrieben von einem Autor dessen Name ich hier – um seinetwillen – nicht nennen möchte. Der Autor hat sich gewundert und geärgert, daß in theologischen oder kirchenhistorischen Publikationen über den zweiten Weltkrieg hauptsächlich über den Holocaust geschrieben wird. Seiner Ansicht nach ist das nicht selbstver­ständlich, denn es sind ja auch dreißig Millionen Russen ermordet worden (was übrigens von uns nicht verneint wird). Er versucht dafür eine Erklärung zu finden und kommt dann zur folgenden Feststellung: “Wir wissen alle, daß jüdische und zionistische Lobbies weltweit reich und mächtig sind. Lobbies promoten Alles und nur dasjenige was günstig ist für die Interessengruppe ist, für die sie stehen. Das gilt bishin zur theologischen Produktion.” Sie könnten vielleicht meinen, daß Kering die Zeitschrift einer neofaschistische Gruppe ist. Aber nein, Kering ist das offiziëlle Organ der belgische Bewegung Christen für den Sozialis­mus.

Zur gleichen Zeit lese ich in den Weißenseer Blätter die Diskussion über “braunrote Terminologie”. Dort sehr gut pariert von Hanfried Müller, sich berufend auf das Darmstädter Wort. Es wird mir deutlicher denn je zuvor: schwarz-weiß, rechts-links, gut-böse gibt es nicht mehr (jedenfalls nicht in der Absolutheit, wie auch wir sie oft gewünscht haben). Es hat sie auch nie gegeben. In der Praxis nicht, aber auch in der historischen Theorie nicht. Wer den zweiten Weltkrieg als einfachen Klassen­kampf zwischen Kapital und Proletariat ansieht, kommt zu irreführenden Schlußfol­ge­rungen (man kann damit zum Beispiel den Antisemitismus von Hitler und Stalin unmöglich erklären). Wer dagegen, wie die Mehrheit der deutschen Historiker, ein Totalitarismus-Theorie anhängt, den zweiten Weltkrieg also sieht als Kampf zwischen totalitairen und demokratischen Regimes, kommt zu genau so irreführen­den Schlußfolgerungen.

Seit der Wende erleben wir das ganz konkret: was man nach 1945 nachgelassen hat, eine wirkliche Entnazifizierung der Kirche, soll jetzt nachgeholt werden: die Kirche im Osten Deutschlands soll jetzt von echten und vermeinten Stasi-Mitarbeitern befreit werden. Die Herausgeber der Zeitschrift Kirchliche Zeitgeschich­te haben mühelos umgeschaltet. Schon in 1991 kommt eine Halbjahresschrift mit dem Themenschwerpunkt “Schuld und Verhängnis” heraus. Sie ist dem 1985 verstorbenen Kirchenhistoriker Klaus Scholder gewidmet (natürlich, es stimmt, er war im Kreise deutscher Kirchenhistoriker der wichtigste Vertreter der Totalitaris­mus-theorie). Der neue Ideologe heißt Gerhard Besier. Er hat sein Urteil sofort fertig: “Was uns heute not täte, wäre wieder ‘ein nüchternes Sündenbekenntnis’ (Barth hatte diesen Ausdruck 1945 benutzt!), eine klare Übernahme von Verantwortung und die gewiß schmerzliche Prozedur einer Überprüfung von kirchlichen Mitarbeitern durch die Gauck-Behörde.”[2]

Was heißt da “wieder”? Es gab nur ein von seiten der neuen Machthaber in der Kirche, die zum Teil auch die alte waren (Lilje, Dibelius, Wurm), nicht akzeptierte ‘nüchternes Sündenbe­kenntnis’ und das war das Darmstädter Wort. Aber gerade das Darmstädter Wort wird in Besiers Artikel überhaupt nicht genannt! Das heißt also: von den Vertretern der ‘Kirche im Sozialismus’ wird jetzt gefordert, was die Vertreter der ‘Kirche im Dritten Reich’ immer verweigert haben. Wir fordern wieder die Anderen und nicht uns selbst zum Schuldbekekenntnis auf, wie es die Kirche durch Jahrhunderten hindurch immer gemacht hat! Das ist ein grober Skandal und öffnet vollständigen Verdringung der wirklich schwarzen Seite deutscher Kirchengeschichte die Türe. Barth und Bonhoeffer, von Besier als Zeugen aufgerufe­n, würden sich im Grabe umdrehen.

 

Es ist schrecklich, und trotzdem sehe ich dies als das kleinere Übel. Das größere Übel wäre, wenn diese Karikatur ein wirkliches Nachdenken über Schuld der Kirche (kleinere Schuld ist auch Schuld) blockieren würde.

Sind wir (wieder) in die Irre gegangen? Das ist eine Frage, die Andere nicht für uns beantworten können. Das kann nur die Kirche der ehemalige DDR selbst kritisch machen. Ich sage “wir”, bin aber selbst auch ein Außenseiter. Aber gerade hier, in diesem Artikel in der Festschrift für Bé Ruys – während der ganze DDR-Zeit Pastorin der Niederländische Ökumenische Gemeinde in Berlin und der DDR – sage ich aus Solidarität vor allem mit Bé “wir”. Wir als Mitglieder der NÖG, wir als Kirche im Sozialismus, wir als Christen für den Sozialismus, sind wir in die Irre gegangen?

Diese Frage ist keine Frage der Fakten. Ich brauche keine Einsicht in Stasi-Akten, keine detaillierte Information über alles was falsch gemacht und schief gegangen ist. Die Stasi mit all ihren Fehlern und all ihrer Kriminalität war keine Gestapo. Auskünfte an die Stasi waren nie dasselbe wie das Verraten jüdischen Mitbürger. Jede Art Vergleichung ist Unrecht gegen den Opfer des Naziterrors. Diejenigen die das suggerieren, verfälschen die Geschichte. Die Frage ist für mich eine prinzipielle Glaubensfrage. Sind wir als Christ in und für den Sozialismus unsern Herrn Jesus Christus treu geblieben? Diese selbstkriti­sche Frage gilt nicht besonderen der Kirche in der DDR. Die Frage gilt genau so gut der Kirche in der BRD oder in den Niederlanden. Keiner hat das Recht von der Kirche im Sozilalis­mus ein besonderes Schuldbekenntnis zu verlangen! Aber alle – Kirchen in Ost und West – haben die Pflicht über mögliche eigene Schuld nachzudenken und sie auch zu bekennen.

In diesem Licht lese ich dazu aufs neue das Darmstädter Wort. Ich frage mich wie das damals gemeint war und in wie weit man das auch auf unsere Situation zupassen kann . Das ist eine heikele Aufgabe, weil Darmstadt nicht gerade das Schuldbekenntnis der deutschen Kirche, sondern das “Gegenbe­kenntnis” einer Minderheit war. Es ist das Wort des Bruderrates der BK, der dann schon fast von den neuen Kirchenführer Dibelius, Wurm, Lilje und Asmussen[3] kaltgestellt war . Es wurde nicht 1945, sondern 1947 in vollem Bewußtsein des aufkommen­den Kalten Krieges geschrieben. Schuldbe­kenntnis ist hier zugleich Warnung vor neuen “Falsche Fronten”[4], vor Revanchismus und vor Antikommunis­mus. Damit ist Darmstadt ein von Anfang an umstrittenes Dokument.

 

I

Uns ist das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus gesagt. Dies Wort sollen wir hören, annehmen, tun und ausrichten. Dies Wort wird nicht gehört, nicht angenommen, nicht getan und nicht ausgerichtet, wenn wir uns nicht freisprechen lassen von unserer gesamten Schuld, von der Schuld der Väter wie von unserer eigenen, und wenn wir uns nicht durch Jesus Christus, den guten Hirten, heimrufen lassen auch von allen falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind.

 

Durch das ganze Darmstädter Wort hindurch hören wir klar das Echo von Barmen 1934. Das hat natürlich alles damit zu tun, daß der wichtigste Autor von Barmen, Karl Barth, auch die entscheidende Vorlage[5] für das Darmstädter Wort geschrieben hat. Darin liegt die Kraft aber auch die Schwäche des Darmstädter Wortes. Wie in Barmen ’34 wurde auch in Darmstadt ’47 mit keinem Wort über die Judenverfolgung und die kirchliche Mitschuld daran gesprochen. Hätte Barth die Judenverfolgung in der Barmer Erklärung erwähnt, dann hätte es überhaupt keine Barmer Erklärung als Ausgangspunkt für eine Bekennende Kirche (oder wenigstens für einen Teil ihrer Mitglieder) gegeben. Aber weshalb wurde in Darmstadt geschwie­gen? Wir können nur spekulieren. War es eigentlich kein Thema, weil es sich hier um “den politische Weg unseres Volkes” handelte? Und Juden gab es ja kaum mehr in “unserem Volke”! Oder hatte man gemeint, die Judenverfolgung sei nur Sache der Nazi’s gewesen, und die Kirche (oder wenigstens die Bekennende Kirche) hätte sich daran nicht mitschuldig gemacht? Aber wie konnte man dann von “Schuld der Väter wie unser eigene” sprechen, wenn man darin nicht die Schuld für eine Jahrhunder­telange antijudaistische oder antisemitische Theologie mitverstanden hat? Vielleicht ist es mitverstanden, indem von “unseren gesamten Schuld” gesprochen wurde, aber hätte das nicht gerade hier explizit formuliert werden müssen? Es hat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs letztendlich 35 Jahre gedauert, bis die Synode der Rheinische Kirche als erste Kirche in Deuts­chland (Ost und West) auch in diesem Sinne ein klares Schuldbekenntnis ausgesprochen hatte. Dieses “Defizit” von Darmstadt sollte uns zum nachdenken bringen, wenn wir aufs neue über “unsere Schuld” reden. Nur die Schuld, die eingesehen wird, die nicht länger verdrungen wird, kann klar und nüchtern bekannt werden.

Rosemarie Müller-Streisand schrieb vor zehn Jahren[6], das Wichtigste in der ersten These sei, daß hier nicht von der Versöhnung von uns mit Gott, sondern von der Versöhnung der Welt mit Gott die Rede ist. Das heißt also, daß hier nicht die Kirche, sondern die Welt ins Zentrum gestellt wird. Das hängt mit der Auffassung von dem, was während der Zeit des National-Sozialismus falsch gemacht worden ist, zusammen. Hat das deutsche Volk sich von Gott (und von der Kirche) abgekehrt und sich deshalb dem National-Sozialismus ausgeliefert? Das ist was Künneth (“Der große Abfall” heißt seine Analyse), Wurm (zurück zu Gott!), Lilje und Dibelius meinten. National-Sozialismus wird dann eine Form der Sekularisierung, und die Antwort lautet dann ‘Rechristianisierung’. Es ist deutlich, daß in dieser Auffassung der (kaum geführte) Kampf gegen den National-Sozialismus im Kampf gegen den Kommunismus als eine andere (mindestens so gefährliche) Form der Abkehr von Gott fortgesetzt werden mußte. Das gerade die NSDAP die Partei des “positiven Christentums” war, war schon längst vergessen, war seit 1945 einfach nicht wahr gewesen. Man möchte am liebsten nicht mehr daran erinnert werden, daß die Kirchen in 1933 nicht leer liefen, sondern immer voller wurden, weil man dort ein “Christentum der Tat” zu finden meinte. Man wollte nicht hören, nicht annehmen, nicht tun und nicht ausrichten, daß das Wort Gottes “allem Volk” gemeint war und nicht “Sonderoffenba­rung” für das deutsche Volk oder für die deutsche Christenheit war. wollte.

Die Frage ob auch die Kirche in der DDR auf diesem Irrweg gegangen ist, ist die Frage, ob hier ein “Evangelium des Sozialismus”, oder das Evangelium Jesu Christi gepredigt ist. Ich erinnere mich, daß die Evangelium-Auslegung in der DDR fast noch mehr als in der BRD apolitisch war. Nicht nur, weil ihre Theologen das so gelernt hatten, aber auch, weil das der DDR-Regierung gut passte. Apolitische Frömmigkeit war ihr lieber, offensichtlich weniger bedrohend als eine politische Lesung, die möglicherweise nicht ganz “korrekt” war. An der Grenze merkte man das als Ausländer: traditionelle Theologie war nie ein Problem, CfS-Material wurde oft kritisch durchgenommen. Vielleicht wäre es für die Kirche und für die DDR besser gewesen, wenn die Christen dort noch viel mehr “mitschuldige und mithoffen­de Genossen”[7] geworden wären. Jetzt werden sie als “mitschuldig” karikaturi­siert, obwohl sie kaum “mitgehofft” haben. Das die SED, völlig anders als die NSDAP gerade keine Partei des “positiven Christentums” sein wollte und bekennen­den Christen sogar die Zutritt untersagte…. Besier cum suis sind an diesen Unterschieden überhaupt nicht interessiert.

 

II

Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlo­sen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. – Es war verhängnisvoll, daß wir begannen, unseren Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker.

 

Hermann Diem zeichnet hierbei an: “Nicht das ist unsere Schuld, daß wir wie alle andere Völker ein nationales Selbstbewußtsein und den Willen zu nationaler Selbsterhaltung hatten und haben, sondern daß wir darin maßlos geworden sind und uns durch den Glauben an eine besondere, gleichsam ‘messianische’ Sendung des deutschen Volkes verblenden ließen.”[8] Es liegt nahe, aber es wurde überse­hen, hier auch auf den Neid gegen das jüdische Volk hinzuweisen. Was man theologisch schon seit Jahrhunderten gelehrt hatte, daß das Christentum an Stelle des jüdischen Volkes Volk Gottes geworden war, das sollte nun auch politisch realisiert werden. Die Losung “Deutschland erwache, Juda verrecke” spricht Buchteile. Hitler hat es viele Male wiederholt: “indem ich das Judentum vernichte­, vollführe ich ‘das Werk des Herren'”. Die Kirche hat es gehört und gerne gehört. Dieser Traum ist 1945 tatsächlich erschüttert worden, und was davon noch übrig war, ist bei der Teilung Deutschlands verloren gegangen. Niemand in der Kirche in Ost oder West hat es gewagt, hierfür dankbar zu sein. Dieselben Leute die noch kurz davor meinten, die Judenchristen könnten in Deutschland vielleicht ihre eigene Kirche haben sowie auch die Franzosen oder Engländer in Deutschland ihre eigene Kirche hatten, haben noch sehr lange gemeint, zwei deutsche Staaten könnten sehr gut eine einzelne Kirche haben. Durch die Anerkennung der Bekennenden Kirche (wovon plötzlich fast Alle Mitglied gewesen sein wollten) als “Widerstandsbewe­gung” bekam die Kirche eine zentrale Stelle beim Wiederaufbau Deuts­chlands. Als das Kaiserreich verloren gegangen war, waren es vor allem die Kirchentage, wo das nationale Gefühl überwintern konnte. Deshalb war es den Mitgliedern des Bruderrates jetzt wichtig, deutlich zu machen, daß die eine Kirche Deutschlands nicht aufs neue diese Rolle spielen sollte, daß dieser “Traum” nicht aufbewahrt werden durfte und das sie auch nicht davon träumten dies zu tun. Das wollte man in dieser zweiten These klar stellen. Es wird hier nicht ausdrücklich auf die Zeit des Nationalsozialis­mus hingewiesen, weil man erkannt hatte, daß diese Entwicklung schon viel früher, mindestens seit der Zeit Bismarcks, in Gang gesetzt wurde. Daß dies gerade bei den Deutschnatio­nalen unter den ehemaligen BK-Mitglieder nicht in guter Erde fiel, wird deutlich sein. Die wütende Kommentare von Asmussen und Künneth[9]sprechen für sich. Anlaß zum Schuldbekennen könnte sein, daß die preußisch-militärische Tradition nicht nur in der BRD sondern auch in der DDR neu auflebte und daß dazu kaum Kritik aus der Kirche zu vernehmen war, das wenigstens könnte anlaß zum Schuldbekennen sein. Ich habe mich bei der Ablösung der Wache beim nationales Antifaschismus Denkmal in Berlin Hauptstadt immer unheimisch gefühlt. Die unselige Kombination vom antifaschistischen Feuer mit Paradeschritt macht deutlich, daß die Absicht dieser zweiten Darmstädter These auch in der DDR nicht von allen verstanden wurde.

 

III

Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine ‘christliche Front’ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.

 

Auch diese dritte These bezieht sich nicht ausschließlich auf die Zeit des ‘Dritten Reiches’. Hier wird vor allem von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gesprochen. Die “notwendig gewordenen Neuordnungen” sind möglicherweise im sozialistischen Sinne zu verstehen, können aber auch ‘objektiv’ gelesen werden. Jedenfalls war der Vorentwurf von Iwand in dieser Hinsicht deutlicher, weil da gesprochen wurde von “gesellschaftliche Neuordnungen im modernen Leben der Menschen”. Die “alten Ordnungen” des Feudalismus (Kaiserreich, Fürstentümer) waren auf einmal verschwunden, und es mußten neue geschaffen werden. Damals hat sich die Kirche mit allen ihren Mitteln für den Kampf gegen Sozialismus und Kommunismus eingesetzt. Daß diese ‘christliche Front’ nicht nur das Bündnis der Kirchen mit ‘alten und herkömmlichen Mächten’ betraf, aber letztendlich auch zur Harzburger Front führte, zum Bündnis also der Deutschnationalen mit den Nationalsozialisten, wird hier noch nicht offen gesagt. Iwand hat in seinem Entwurf geschrieben daß dieses Bündnis ‘furchtbare Folgen gezeitigt hat’, Niemöller dagegen schrieb ‘daß es sich schwer an uns gerächt hätte.’ Das wurde dann auch im definitivev Text übernommen. Der Satz Iwands wäre mir lieber gewesen, weil die Formulie­rung Niemöllers doch wieder die Kirche als Opfer schildert. In beiden Formulierungen wird übrigens noch immer euphemistisch gesprochen. Hier wäre es vielleicht besser gewesen zu schreiben, daß dieses Bündnis die Kirche an dessen schrecklichen Folgen mitschuldig gemacht hat. Wie dem auch sei, das entscheiden­de Wort ist hier “christliche Front”, weil es nicht nur eine Analyse der Vergangen­heit aber auch eine Warnung für die Zukunft beinhaltet. Ist das nicht gerade was in diesen Jahren versucht wurde, eine neue christliche Front zu bilden? Es war die Zeit, in der mit den Amerikanern auch die “moralische Wiederbewaffnung” nach Europa kam; die Zeit in der Winston Churchill suggeriert hat, daß man vielleicht “das falsche Schwein geschlachtet hat”. Jedes Wort gegen diese christliche Front war in dieser Zeit ein Wort gegen den Kalten Krieg und für den Weltfrieden. Das in diese Zusammenhang von ‘christlicher Freiheit’ gesprochen wurde, ist natürlich auf den Einfluß Karl Barths zurückzuführen, aber es stand schon im ersten Entwurf Iwands. Christliche Freiheit muß hier im Barmenschen Sinne als “frohe Befreiung aus den Gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen”[10] verstanden werden. Freiheit also, um mit allen Menschen guten Willens “der Stadt Bestes” zu suchen. Diese Freiheit wurde “preisgegeben”, schrieben Iwand und Barth, aber Niemöller formulierte “verraten”. Das Freiheit nie ein abstrakter Begriff ist, sondern immer Freiheit zu etwas, wurde dann mit den Worten “erlaubt und gebietet”[11] deutlich gemacht. Auch hier hört man die Ethik Karl Barths: Was erlaubt ist, ist auch das Gebotene! Es war also aus der Sicht des Bruderrates geboten “Lebensfor­men abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert”. Hier wird nicht nur von den 20er Jahren, sondern ganz konkret von der Zeit, in welche das Darmstädter Wort verfaßt wurde, geredet. Diem c.s. schreiben in ihrer Auslegung, daß mit dem letzten Satz noch “keine grundsätzliche Entscheidung über die Frage nach dem Recht zur Revolution” gefällt sei. Lediglich sei die Tatsache festgehalten, “daß die deutsche Kirche zwar allen revolutionären Bewegungen gegenüber äußerst kritisch war, andererseits aber gegenüber der Entwicklung zur schrankenlose Diktatur auffallend wenig Hemmun­gen zeigte”[12]. Doch hier wird zum ersten Mal ein entstehender sozialistischer Staat auf deutschen Boden nicht verneint.

 

IV

Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichts gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle durch eine politische, soziale und weltanschauli­che Frontenbildung verfälscht und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen.

 

Wenn es einen Teil des Darmstädter Wortes gibt, das unbeachtet geblieben ist, dann vor allem diese vierte These. Im Kalten Krieg wurde ja mit politischen Mitteln eine Front der Guten gegen die Bösen gebildet, als hätte es überhaupt keinen Nationalsozialismus gegeben! Oder… mußte in der neue Frontenbil­dung so stark verdrängt werden, daß es in der damalige Kampf zwischen gut und böse nicht die Kirche war, die auf der Seite der Kinder des Lichtes den Nationalsozialis­mus als das Reich des Böses bekämpfte, sondern daß sie zum größten Teil davon überzeugt waren, daß Adolf Hitler zu den guten von Gott gesandten Führern gehörte, mit wem man das große Übel des Bolschewismus bekämpfen mußte. Diesmal wollte man auf der guten Seite stehen und das hieß…. wieder einmal den Bolschewis­mus bekämpfen! Es kann nicht genügend betont werden: Hans Prolingheuer hat recht mit siener Behauptung, daß die Führung der evangeli­schen Kirche Deutschlands mindestens fünfzig Jahre lang gegen Alles was links war einen Kirchenkampf geführt hat [13]. Aus dieser Sicht ist zu mindest die Kirche der BRD wiederum in die Irre gegangen, hat wiederum eine Front der Guten gegen die Bösen gebildet. Mit dem Unterschied, daß sie diesmal wenigstens vorläufig von der Geschichte Recht bekommen hat. In unsere These wird also nicht nur behauptet, daß die Kirche in der Nazizeit auf der falschen Seite gestanden hat, sondern daß es für eine Kirche keinenfalls gut ist, auf diese Weise Stellung einzunehmen. Deshalb müßten wir uns umgekehrt fragen, ob auch wir in derselber Weise in die Irre gegangen sind, ob auch die Kirchen in der DDR der Meinung waren, daß sie als “Front der Guten” ein Kampf zu führen hatte gegen das Reich des Bösen und daß sie den kapitalistischen Westen tatsächlich als Reich des Bösen angesehen hat. Ich nehme an, daß in den meisten kirchlichen Gemeinden der ehemaligen DDR ein großes Gelächter aufgekommen wäre, wenn ich danach fragen würde. Natürlich ist das nie ihre Ansicht gewesen! Das hat man auch nie verkündet; nicht nur weil keiner das von ihnen verlangt hat, aber auch, weil dann wirklich kein Hund mehr zur Kirche gekommen wäre. In der Praxis standen die Kirchen der BRD und der DDR nur sehr selten einander gegenüber, sonder faktisch fast immer auf derselben Seite, auf der Seite des Freien Westens und des christlichen Abendlandes. Es ist meine feste Überzeugung, daß ironischer Weise große Teile der Kirchen in der DDR gerade das geleistet haben, was die evangelische Kirche während der Zeit des Dritten Reiches nicht geschafft hat: gelassene Widerstand leisten!

Einen Dibelius der aufrief, die Gesetze (und sogar der Verkehrsregeln) der DDR nicht zu beachten, hat man dafür meistens nicht gebraucht. Daß diese Kirche jetzt von den Nachfolgern des Dibelius vorgeworfen wird, sie hätten “nicht tapfer genug” Widerstand geleistet, ist zumindest ironisch. Wenn die Kirche der ehemalige DDR sich im Zusammenhang mit dieser vierten These etwas vorzuwerfen hat, dann dies, daß sie doch wieder darauf hineingefallen ist, in der christlichen Front der Guten gegen den Bösen gearbeitet zu haben.

 

V

Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialis­mus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen die Sache der Armen und Entrecht­eten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.

 

Nicht mit irgendeiner Front der Guten gegen die Bösen mitmachen, nicht auf der einen und nicht auf der anderen Seite stehen, wie macht man das konkret? Soweit ich das Darmstädter Wort im Sinne von Hermann Diem verstanden habe, war es ein Aufruf zu Nüchternheit. “Suche des Stadt Besten”, das heißt: lege dich nicht auf irgendeines politisches Programm oder irgendeine Richtung fest, sondern sehe das Gute (und Schlechte) in den verschiede­nen Parteien oder Bewegungen. Es wird gefordert auch das Positive im Marxismus zu sehen. Man könnte das einseitig nennen, und natürlich ist es von allen Gegnern einseitig genannt worden. Aber es möge klar sein, daß gerade der Marxismus, mit Ausnahme einer kleine Minderheit innerhalb der Bewegung der religiöse Sozialisten, von niemanden in der Kirche auch nur als potentiell positive Bewegung angesehen war. Das Darmstädter Wort ruft dazu auf, ein Fehler der Vergangenheit – nicht nur aus der Zeit des Nationalsozialismus sondern auch aus der Zeit der Weimarer Republik – gutzuma­chen. Die Formulierung ist übrigens nicht unproblematisch, weil sie den ökonomi­sche und philosophischen (und dialektischen) Materialismus der Marxistischen Lehre voneinander loslöst und dadurch sozusagen einen eigenen kirchlich abgesegne­ten Marxismus organisiert.

Das Sprechen vom Auftrag und von der Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits könnte zu dem Missverständnis führen, daß die Trennung von Kirche und Staat (die z.B. in Barmen noch so deutlich hörbar war) hier wieder aufgegeben wird. Gerade bei dieser These war die “Barmensche” Formulierung Karl Barths sehr viel besser: “Wir sind in die Irre gegangen, indem wir es übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre ein von der Kirche weithin vergessenes, wichtiges Element biblischer Wahrheit (Auferstehung des Fleisches) neu ans Licht gestellt hat, indem wir ihm ein unbiblisch spiritualistisches Christentum gegenüberstellten und indem wir es in dieser falschen Kampffront unterließen, die Sache der Armen im überlegenen Licht des Evangeliums von Gottes kommendem Reich zur Sache der Kirche zu machen”[14] Das ist klare Sprache: Staat bleibt Staat und Kirche bleibt Kirche. Der Staat oder die Partei oder die Bewegung kann die Kirche an “Elementen biblischer Wahrheit” erinnern, sowie die Kirche den Staat an ihre Auftrag für Recht und Frieden zu sorgen kann und muß erinnern.

Die Formulierung Karl Barths ist mir auch nachträglich lieber, weil sie in gutem Sinne gegenüber der entstandenen Praxis innerhalb der Kirchen der DDR kritischer ist. Hat man nicht gerade dort all zu oft das Leben und Zusammenleben des Menschen dem Staat überlassen, weil man meinte, das sei nicht Sache der Christen? Hat es nicht auch in der DDR ein weit verbreitetes “unbibliches spiritualistisches Christentum” gegeben? In der Kirche ging es um die höheren Dinge und deshalb war man bereit, die materialistische Auffassungen der DDR-Behörden “hinzunehmen”. Und natürlich muß hier auch öffentlich gesagt werden, das die DDR-Behörden hin und wieder die kirchliche Auffassungen über die höheren Dingen gerne hinnahm, weil die Kirche sich dann wenigstens nicht mit den wirklich wichtigen Sachen beschäftigte. Ist die Sache der Armen und Entrechteten in der DDR zur Sache der Christenheit gemacht worden, oder haben die meisten Christen in der DDR gemeint, daß sie so verarmt und entrechtet waren, daß solches ihnen nun wirklich nicht zugemutet werden konnte?

 

VI

Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen.

Nicht die Parole: Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst nottut.

 

Eine neuer Anfang ist nur dann möglich, wenn man es wagt – wie Hromadka es sagte – “der Geschichte ins Gesicht zu sehen”. Das galt damals, das gilt auch heute. Es ist vieles schief gelaufen, es ist auch Unrecht passiert, hier und dort. Wer, wie Besier, schon sofort weißt, wer in die Irre gegangen ist und wer nicht, blockiert den notwendigen Prozeß der Selbstreinigung der Kirche. Damals wollten alle Freispruch in Hinblick auf einen neuen und besseren Dienst. Sogar wirkliche Kriegsverbrecher sollten (versteht sich: nur wenn sie Mitglieder einer der christlichen Kirchen waren) in diesen Freispruch einbezogen werden. Jetzt hört es sich nach allen Seiten an, als wolle man gerade das nicht, als wolle man gerade die Andern, diejenigen von denen sie meinten sagen zu dürfen, daß sie auf der falschen Seite standen, in der Schuld festsetzen.

Es will mir nicht aus dem Kopf gehen, immer wieder muß ich an das Gleichnis des Schalksknechtes (Matthäus 18) denken: “Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist!” Ich brauche das Gleichnis in diesem Zusammenhang nicht auszulegen. Ich möchte nur ganz vorsichtig fragen: was wäre, wenn es noch schlimmer käme, wenn der Schalksknecht zu seinen Herrn sagen würde, sobald dieser ihn zur Verantwortung ruft: ich war kaum schuldig, und ich habe sofort meine kleine Schuld gestanden, aber dieser Knecht ist wirklich schuldig!

Ich wiederhole, was ich zu Anfang gesagt habe: die kleinere Schuld ist auch Schuld und sollte in Hinblick auf einen neuen Anfang auch gestanden und bekannt werden. Was wir bekämpfen wollen ist das vermeintliche Recht westdeutscher Kirchenhistori­ker, als Schalksknechter und Henker aufzutreten. Natürlich sind wir in die Irre gegangen, sowie wir alle immer wieder in die Irre gehen. Und natürlich brauchen wir den Freispruch im Namen Jesu Christi. Aber nicht weil wir den Mut gehabt hätten, die Parole “Christentum und abendländische Kultur” abzuschwören, denn das haben nur ganz wenigen getan. Vielmehr weil dieser Mut auch uns gefehlt hat. Weil wir nicht genug an der Kraft des Todes und Auferstehung Jesu Christi geglaubt haben, der uns gesagt hat: Siehe, ich mache alles neu! (Offenb. 21:5).

 

VII

Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: “Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.” Darum bitten wir inständig: Laßt die Verzweiflung nicht über euch Herr werden, denn Christus ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, laßt Euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet Euch in dieser Freiheit und in großer Nüchtern­heit der Verantwortung bewußt, die alle und jede einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesen tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient.

 

Wir haben es bezeugt, damals 1934 in Barmen, und wir haben es bezeugt, damals 1947 in Darmstadt, und werden wir es heute in Berlin aufs neue zu bezeugen wagen? Etwas schwieriger wird es für mich schon, wenn Diem 1947 schreibt: “Wir haben in Barmen 1934 gegenüber dem nationalsozi­alistischen Gewalt- und Weltanschauungsstaat bekannt….” Das hätte Diem nicht schreiben dürfen, weil keiner es gewagt hatte (es ist zu verstehen und zu erklären und gerade deshalb soll man darüber keine halbe Wahrheiten schreiben) damals in Barmen von “Gewalt- und Weltanschauungsstaat” zu sprechen. Gott sei Dank schreibt Diem weiter unten sehr ehrlich: “Wir haben dieses politischen Handeln als solches beinahe unwidersprochen gelassen. In der Außenpolitik haben wir es sogar weithin gutgeheißen. In der Innenpolitik haben wir es nur insoweit bekämpft, als es die Freiheit der kirchlichen Verkündigiung zu unterbinden suchte.”[15] Spannen­der wird es schon zu hören, was man 1947 mit diesem Zeugnis gemeint hat, als die Welt schon begonnen hatte sich in zwei Blöcke aufzuteilen. Es gab noch keine zwei deutsche Staaten, aber sie waren nicht mehr weit weg und es war schon vorauszusehen. Diem hatte es jedenfalls schon vorausgesehen und redete schon von einem Staat im Westen und einem Staat im Osten. Beide haben ihre eigene politische Auffassungen, beide haben sogar ihr eigenes “politisches Evangelium”, und es ist nicht die Aufgabe der Kirche, eine dieser beiden politischen Evangeliums in ihr Bekenntnis aufzunehmen oder von vorn herein zu kritisieren. Man müsse in beiden Staaten seine politische Verantwortung wahrnehmen und dürfe sich jedenfalls nicht auf Kreuzzug gegen den Osten mitnehmen lassen. Hermann Diem sieht 1947 sogar ein Vorteil für die Brüder (von Schwester war 1934 und war 1947 nie die Rede, das wenigstens kann 1997 so nicht wiederholt werden) im Osten: “Die Kirche im Osten ist in echterer Weise nach ihrem Dasein gefragt als im Westen, wo sie auch heute noch unangefochten von außen ihre Rolle als Hüterin der christlichen Kultur des Abendlandes weiter spielen kann. Die Kirche im Westen steht darüber in der großen Gefahr, ihre eigene politische Verantwortung in neuer und echter Konfrontation mit dem demokrati­schen Staat gar nicht wahrzunehmen, sondern statt dessen wie gelähmt nach der östlichen Grenze und der von dort befürchteten Bedrohung zu blicken”[16]. Man kann es kaum glauben, aber diese prophetische Sätze stammen tatsächlich aus 1947.

“Frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt”. Was heißt das im Jahr 1997? Ich kann mir schon vorstellen, daß viele vielleicht auch hier Anwesende hierüber recht zynisch geworden sind. Wenn man sein Arbeitsstelle, seine Pfarrstelle, seinen Lehrstuhl in den neuen Umständen völlig zu Unrecht verloren hat, dann könnte man sich in sehr spezieller Weise über die “Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt” freuen. Als Ausländer und Aussensteher, der seine Pfarrstelle und sein Traktement noch hat, bin ich nicht in der Position hierüber zu urteilen. Nur dies, daß diese “Befreiung” uns sehr gewiß nicht durch Jesus Christus widerfahren ist. Es kann uns nur zum nachden­ken bringen, in wie weit unsere Positionen in diesem nun zur Vergangenheit gewordenen Staat unsere Verkündigung und unsere politische Einstellung mit bestimmt haben. Vielleicht könnte das die neugewonnenen Freiheit sein, Freiheit zur Analyse, zu einer kritischen Nachfrage bei uns selbst und bei einanderen: Was ist passiert? Wie konnte es passieren. “Laßt die Verzweiflung nicht über euch Herr werden, denn Christus ist der Herr.” Laßt uns das als die einzige gerade Linie ansehen. 1934,  1947 und 1997: “Christus ist der Herr.” “Es wird regiert”. Man darf behaupten, daß die Freie Marktwirtschaft gesiegt hat. Wir haben keinen Grund, das zu verneinen. Aber das sie deshalb auch die bessere oder gerechtere Wirtschaftsform ist, das wäre eine Glaubensbekenntnis. Da müssen wir nein sagen: nicht die freie Marktwirt­schaft sondern Christus ist der Herr. Es werden nicht Viele sein die angesichts der DDR-Vergangenheit wunderschöne Träume haben. Die Träume die über das Westfernsehen zu uns gekommen sind waren Betrug. Das ist uns jetzt allen deutlich geworden. Sind wir in die Irre gegangen? Vielleicht wäre eine historische Umdrehung hier angemessener. Vielleicht wäre es für die Kirchen der ehemalige BRD angemessener zu bekennen, daß sie in die Irre gegangen sind, daß sie den Traum vom großen, mächtigen Deutschland weitergeträumt haben und vielleicht sogar immer noch weiterträumen. Umgekehrt wäre es für die Kirchen der ehemaligen DDR angemessener das Stuttgarter Schuldbekenntnis zu wiederholen und zu bedauern, daß sie nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

 



    [1] Dieser Beitrag ist der etwas ausführlichere Text des Vortrages, den ich am 10. Juni dieses Jahres auf dem 6. Berliner Staat-Kirche-Kolloquium: Das Darmstädter Wort – Geschichte und Gegenwart hielt.

    [2] Gerhard Besier, “Soll die Schuld im Erfolg vernarben?” in Kirchliche Zeitgeschichte, Heft 2/1991, S. 493-511. Zitat auf S. 511. Das dieses thematisches Heft kein Zwischenfall ist, kann mann in den seitdem verschienenen Halbjahresschriften nachlesen. Es ist fast nur noch von der Kirche in der DDR die Rede. KZG 2/1994 hat als Themenschwerpunkt “Kirche und Diktatur” und … es geht ausschließlich über die Kirche in der DDR. So wird Ideologie produziert. So wird nicht “nüchtern Schuld bekannt”, sondern wird bewußt (eigene) Schuld verdrungen.

    [3] Eine Ausnahme muß hier für Martin Niemöller gemacht werden. Er war der einzige Mitunterzeichner der Stuttgarter Schulderklärung der auch an dem Zustandekommen des Darmstädter Wortes mitgearbeitet hat. Aber, wie bekannt, hat er die Stuttgarter Schuld­erklärung in seinen vielen Reden in den Jahren 1945-1946 wesentlich anders interpretiert als die Aufsteller der Erklärung Dibelius und Asmussen. Zur Zeit der Entstehung des Darmstädter Wortes war Niemöller stellvertretender Vorsitzender des Rates der Evangeli­schen Kirche in Deutschland und Leiter des Außenamtes. Wer Klarheit über das Verhältnis zwischen Otto Dibelius, dem Vorzitzenden des Rates, und seinem Stellvertreter Niemöller haben will, lese die Autobiographie des Dibelius, Ein Christ ist immer im Dienst, (Stuttgart 1961). Übrigens wird in dieser sehr merkwürdigen “Kirchengeschichte” von Darmstadt mit keinem Wort geredet. Erinnerung ist eine merkwürdige Sache: auf S. 169 schreibt Dibelius: “Mit dem Nationalsozialisten hatte ich niemals etwas gemein gehabt”. So spricht der Generalsuper­intendent der bei dem Staatsakt in Potsdam zur Installierung der Hitler-Regierung eine Predigt gehalten hat!

    [4] Hans Prolingheuer spricht vom Evangelischen Kirchenkampf als Kampf an falschen Fronten.

    [5] Der Text dieser Vorlage findet man bei Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen (Köln 1987) auf den Seiten 177-180. Karl Barth wollte übrigens nicht als Autor oder Co-Autor dieses Wortes genannt werden. An Hermann Diem schrieb er: “Und darüber werden Sie sich ja im klaren sein, daß mein Name auf keinen Fall genannt werden darf, sondern daß Sie diesen Entwurf… als den eines Herrn X oder noch besser als Ihren eigenen vorbringen müssen.” Zitiert bei Hartmut Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes, Beiheft bei Junge Kirche 1977, Heft 8/9. Aus Ludwigs Studie wird klar das Iwand und Barth die wichtigste Beiträge zur Text des Darmstädter Wortes geleistet haben.

    [6] Rosemarie Müller-Streisand, “Darmstadt – Die Probe auf den Kirchenkampf” in: Neue Stimme 1987/9, pag. 5-11.

    [7] Nach Barths Tambacher Vortrag aus 1919.

    [8] Zitiert bei Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen, S. 220.

    [9] Siehe die Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung von 15. November 1947. Zur Vorbereitung der Versammlung europäischer Christen in Darmstadt 1977 wurden die Kommentare von Kunneth und Asmussen nachgedruckt.

    [10] Zweite Barmer These.

    [11] Auch die vorzügliche Untersuchung Hartmut Ludwigs nach der Entstehung des Darmstädter Wortes, erklärt nicht, wie diese Worte, die in keiner der Vorentwurfen benutzt wurden, in den endgültige Text gekommen sind.

    [12] Zitiert bei Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen, S. 224.

    [13] Es ist der Hauptthese seiner Kleine politische Kirchengeschichte (Köln 1984), die als Untertitel hat: Fünfzig Jahre evangelischer Kirchenkampf von 1919 bis 1969.

    [14] Zitiert bei Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen, S. 178.

    [15] Beide Zitaten aus Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen, S. 233-234.

    [16] Zitiert bei Prolingheuer, Wir sind in der Irre gegangen, S. 239

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