Bonhoeffer und Iwand zum Schuldbekenntnis und Umkehr
Ein Vergleich des Schuldbekenntnisses aus Bonhoeffers Ethik und Iwands Entwurf für das Darmstädter Wort
Wilken Veen
Im Herbst 1977 fuhr ich mit einer Delegation von ungefähr fünfundzwanzig Menschen aus den Niederlanden nach Darmstadt zu einer Konferenz anlässlich des dreißigsten Jahrestages des Darmstädter Wortes. Wahrscheinlich verdankte ich die Aufnahme in diese Delegation meinem ersten Aufsatz über den deutschen Kirchenkampf in der Zeitschrift des Niederländischen Christen-Studenten Vereins (NCSV), Eltheto[1]. Zu dieser Tagung vom 7. bis. 9. Oktober wurde von den Evangelischen Studenten Gemeinden (ESG) und der europäischen Sektion des Christlichen Studentenweltbundes eingeladen. Ich weiß nicht mit wieviel Teilnehmern die Organisation gerechnet hatte, aber ganz bestimmt nicht mit den ungefähr Tausend die kamen. Die Räume waren zu klein, Unterkunft war schwierig und die eingekauften Mahlzeiten reichten kaum. Aber, wie Hartmut Ludwig zurecht schrieb: Dieses „Fest des Nachdenkens und der Gemeinschaft“ werden die Teilnehmer nie vergessen[2]. Unter dem Eindruck des riesigen Interesses für diese Versammlung Europäischer Christen wurde beschlossen, dass es wichtig war, dass die verschiedenen Basisgruppen aus mehreren europäischen Ländern miteinander in Kontakt blieben. Dazu wurde eine „Darmstadt-Koordination“ ins Leben gerufen und bei Frontier Intern, einer internationaler Organisation, die zusammen mit dem Weltkirchenrat und dem Christlichen Weltstudentenbund Stipendien für junge Leute ausgab, die einen kirchlichen Auftrag im Ausland annahmen, ein Stipendium beantragt. Der Antrag wurde honoriert und ich wurde Studiensekretär der neuen Koordination. In den zwei Jahren meiner Tätigkeit war ich u.a. an der Vorbereitung des Gollwitzer-Festivals in West-Berlin (anlässlich dessen siebzigsten Geburtstags im Dezember 1978) und an der Versammlung der Ökumenischen Basisgruppen für atomare Abrüstung in Zeist im September 1980 beteiligt.
Wenn ich seitdem den Namen Iwand höre, denke ich sofort an das Darmstädter Wort. In 2004 schrieb ich ein kleines Buch über die Wiederaufnahme der Kontakte zwischen den Niederlanden und Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, „Versöhnung in der Praxis“[3]. Die Frage war: Wie kommt man wieder zueinander, wenn der Krieg zu Ende ist? Ich stellte fest, dass die ersten erneuten Kontakte der Austausch von niederländischen und deutschen Studenten waren. Die NCSV und ihr Schwesterverein, die DCSV, spielten hierbei eine große Rolle. Einige deutsche Studenten nahmen ab Anfang 1947 (man brauchte damals als Deutscher ein Visum, um ins Ausland zu reisen) an niederländischen Tagungen teil und die Niederländer als Freiwillige an Arbeitslagern in Deutschland, um beim Wiederaufbau zu helfen.
Die zentrale Frage für die Niederländer, wenn sie nach Deutschland fuhren oder Deutsche empfingen, war: Sind die Deutschen bereit auf irgendeine Weise Schuld zu bekennen? Nicht selten war das eine Bedingung, um an solchen Begegnungen teil zu nehmen. Mit Ehre muss hier der Name von Wim Wesseldijk genannt werden, damals als Sekretär des NCSV-Vorstandes verantwortlich für die Auslandskontakte. In einer Zeit, als man in den Niederlanden überhaupt nichts von Deutschland oder Deutschen wissen wollte, betonte er nachdrücklich, dass zwar von Schuld gesprochen werden musste, „aber wer in seiner, übrigens gerechtfertigten, Anklage gegen Deutschland vergisst, dass es sich hier handelt um einen heftigen Ausbruch von dem, was in unserer ganzen modernen Kultur symptomatisch ist, wird zum Pharisäer.“[4]
Schuldbekenntnis als Bedingung für die Wiederaufnahme der deutschen Kirchen in die internationale Kirchengemeinschaft, das war auch die Auffassung des niederländischen Generalsekretärs des späteren Weltkirchenrates, Willem Visser ‘t Hooft. In Mai 1943 schreibt er in seiner Schrift „The Post-War Task of the World Council of Churches“[5]:
„Eine der größten und brennendsten Aufgaben der ökumenischen Bewegung nach dem Kriege wird es sein, eine wirkliche Versöhnung unter den Kirchen der kriegführenden Länder zu erreichen. An der Durchsetzung dieser Aufgabe hängt nicht nur die Zukunft unserer Bewegung selbst, sondern auch ihre Fähigkeit, als eine Macht des Wiederaufbaus in der Nachkriegswelt zu wirken.“ Wie Wesseldijk meint er, dass von einer gemeinsamen Schuld gesprochen werden kann, aber er schreibt auch:
„…eine allgemeine Erklärung der gemeinsamen Verantwortlichkeit für die gegenwärtige Katastrophe genügt nicht. Wahre Versöhnung setzt die genaue Anerkennung des eigenen Versagens durch jede Kirche und der Sünden ihrer Nation voraus.“
Mit diesem Gedanken kam Visser ‘t Hooft am 18. Oktober 1945 auch nach Stuttgart. Besier und Sauter publizierten vierzig Jahre danach eine Notiz von seiner Hand mit dreizehn Punkten für das Gespräch mit der Führung der DEK[6]. Problem war, dass das gefragte Bekenntnis der deutschen Kirchen nicht als erzwungen aussehen sollte. Die Lösung brachte Pierre Maury mit der Formel: „Wir bitten euch uns zu helfen, damit wir euch helfen.“ Und so kam es zur Stuttgarter Schulderklärung. Der entscheidende Passus in dieser Erklärung lautete:
Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Viele reagierten abweisend[7]. Man sagte, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland nicht das Recht hatte im Namen des Deutschen Volkes zu sprechen. Wenigstens die führenden Männer der Bekennenden Kirche hätten sich nichts vor zu werfen, und sogar, dass der Kriegsausbruch nicht die alleinige Schuld der Deutschen sei, weil er eine gerechtfertigte Reaktion auf das Versailler Diktat war. Gegenüber so vielen negativen Reaktionen kann man natürlich sagen, dass es tapfer und vernünftig war, dass die Kirche wenigstens dieses gesagt hatte. Auch Karl Barth hat sich in seinen Vortrag „Ein Wort an die Deutschen“ vom 2. November 1945 in diesem Sinn über die Stuttgarter Schulderklärung ausgesprochen. Die Kritik, dass in dieser Erklärung „zuviel“ Schuld bekannt wurde, war jedoch nicht die einzige Kritik. Es gab auch damals schon Stimmen, die meinten, dass „zu wenig“ Schuld bekannt wurde. Wenn die Kirchenleitung in ihrer Erklärung schreibt „durch uns“, dann meint sie damit „durch das deutsche Volk“, mit dem sie sich „in einer Solidarität der Schuld“[8] verbunden weiß. Das die Kirche selber auch große Fehler gemacht hat und vor allem in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft die neue Regierung sehr herzlich willkommen geheißen hat, davon ist kaum die Rede. Sie sagt zwar: wir klagen uns an, dass wir mutiger bekannt …., aber nicht dass sie gebetet hat für die deutschen Armee, geglaubt hat an den deutschen Endsieg und ihren Führer, zumindest in den ersten Jahren, brennend geliebt hat. Vielleicht hätte man nicht sagen müssen, dass man zu wenig gemacht, sondern, dass man das Falsche gemacht hat.
Die Ökumene, die von Anfang an einen Weg gesucht hat, um die deutschen Kirchen in den entstehenden Weltkirchenrat aufnehmen zu können, hat sich aber mit diesem kleinem Schritt zufrieden gegeben.
Wenn die Stuttgarter Schulderklärung nicht ein wirkliches Schuldbekenntnis war, was wäre dann ein Schuldbekenntnis? Wir wollen in diesem Beitrag zwei Dokumente miteinander vergleichen, die zwar nicht als explizite Schuldbekenntnisse formuliert worden sind, die das aber inhaltlich sind, jedenfalls mehr als die Stuttgarter Erklärung. Es handelt sich um das Kapitel „Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung“ in der Ethik Dietrich Bonhoeffers, und um das Darmstädter Wort, dessen erster Entwurf von Hans Joachim Iwand verfasst wurde. Es wurde in diesem Entwurf Iwands ziemlich viel geändert (wir werden bei der Besprechung dieses Textes darauf zurückkommen), aber der wichtigste Satz aus diesem Text, „Wir sind in die Irre gegangen“ ist unverändert geblieben. Dieser Satz macht es zu einem wirklichen Schuldbekenntnis. Es fragt nicht nach der Schuld der Anderen (für Bonhoeffer eine Bedingung für ein wirkliches Schuldbekenntnis), es spricht unmittelbar von eigener Schuld. Obwohl Iwand dem definitiven Text des Darmstädter Wortes zugestimmt und ihn unterzeichnet hat, wollen wir hier doch nicht die Teile, die von Karl Barth verfasst sind, als die Seinigen behandeln und besprechen darum (auch wegen des Themas dieses Buches) Iwands Entwurf. Wie gesagt, die beiden Texte, Bonhoeffers Schuldbekenntnis und Iwands Entwurf, sind nicht als Schuldbekenntnis formuliert, sind deshalb auch nicht wirklich gut miteinander zu vergleichen, aber sie zeigen zwei Möglichkeiten wirklich Schuld zu bekennen. Bei Bonhoeffer ist das Kapitel „Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung“ Teil eines größeren Ganzen, bestehend aus vier Kapitel, die eigentlich zusammen mit dem Haupttitel „Ethik als Gestaltung“ überschrieben werden sollten.[9] Für ihn ist Schuldbekenntnis eine notwendige Bedingung für Erneuerung (darin sind sich Bonhoeffer und Iwand einig). Iwand schreibt ein „Wort zum politischen Weg unseres Volkes“ und meint, dass ein neuer Weg in der Politik mit einem Bekenntnis über das, was auf dem alten Weg falsch war, anfangen sollte.
Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung
„Es geht um das Gestaltwerden der Gestalt Christi unter uns.[10]“ (125) Mit diesem Eröffnungssatz wird deutlich, dass Bonhoeffer mit diesem Kapitel direkt an das Kapitel „Ethik als Gestaltung“ anschließt. Das zwischendurch geschriebene „Erbe und Verfall“ muss meines Erachtens als ein historischer Exkurs verstanden werden. Es geht, so wiederholt er seine Formulierung aus dem früheren Kapitel, um den wirklichen, das ist der in Christus angenommene, gerichtete und erneuerte Mensch. Was ist nötig, um es möglich zu machen, dass Christus im Leben und im Handeln seiner Nachfolger wieder Gestalt bekommen kann? Das geht nur, meint Bonhoeffer, wenn die Kirche und die individuellen Christen sich realisieren was alles schief gegangen ist, wo sie, um mit dem Darmstädter Wort zu sprechen, in die Irre gegangen sind, und nur, wenn sie ihre Schuld gegenüber der ganzen Welt öffentlich bekennen. Das Gericht Gottes, dem wir uns zu unterwerfen haben, ist nicht ein endgültiges Urteil nach unserem Tod, sondern ein Gericht, das über uns kommt, um uns zu rechtfertigen und zu neuen Menschen zu machen. Der Christ (und die Kirche) fragt sich in jeder Situation, was er falsch gemacht hat. Das Schuldbekenntnis gehört also in die christliche Ethik, wird hier auch in diesem Zusammenhang formuliert, aber ist immer Bekenntnis konkreter Schuld[11]. In der Liturgie pflegen wir unsere Schuld im Allgemeinen zu bekennen, aber wir sollten auch konkret sagen, was wir falsch gemacht haben. Es ist nicht völlig deutlich, ob Bonhoeffer sein Schuldbekenntnis im Hinblick auf eine spätere Situation (nach dem Krieg) formuliert hat, oder – ich halte das Letztere eigentlich für das meist Wahrscheinliche – dass er gemeint hat, dass die Kirche (das müsste dann heißen: die Bekennende Kirche) schon damals – in 1940 – hätte Schuld bekennen sollen. Aber in beiden Fällen ist der Zeitpunkt von großer Bedeutung. Wenn er im Herbst 1940 eine erste Skizze für eine Disposition seiner Ethik[12] macht, notiert er als Reihenfolge für den ersten Teil: Ethik als Gestaltung – Erbe und Verfall – Schuld und Rechtfertigung – Kirche und Welt, Christus und die Gebote – Die vorletzten und die letzten Dinge – Der neue Mensch. Bonhoeffer hatte also zu dieser Zeit den Plan, um über Schuld und Rechtfertigung in diesem Zusammenhang zu schreiben, hatte damit wahrscheinlich auch schon angefangen, aber hat dieses Kapitel erst im Vorjahr 1941 – so zeigt die Untersuchung von Papier und Tinte der Manuskripte – fertiggeschrieben. Deutschland befand sich im Herbst 1940, nach dem Sieg über Frankreich und nach der Unterzeichnung des Dreimächtepaktes mit Italien und Japan am 27. September, politisch und militärisch auf seinem Höhepunkt. Niemand in der Kirche (auch nicht in der Bekennenden Kirche) dachte auch nur eine Sekunde daran Schuld zu bekennen. Aber Bonhoeffer wusste von den ersten Judendeportationen im Oktober desselben Jahres. Seine Zwillingsschwester Sabine ist mit ihrem nichtarischen Ehemann Gerhard Leibholz dann schon längst nach England emigriert. Dass gerade die Kirche das kaum sieht und sich deswegen überhaupt nicht schuldig fühlt, eben deshalb hat sie sich schuldig gemacht und soll diese Schuld vor Gott und der Welt bekennen. Es bleibt natürlich eine beängstigende Frage, ob die Kirche jemals Schuld bekannt hätte, wenn Deutschland den Krieg nicht verloren hätte!
Bonhoeffer wählt den Dekalog als Modell für sein Schuldbekenntnis[13]. In kaum anderthalb Seiten formuliert er, wie die Kirche „sich schuldig bekennt aller Zehn Gebote“ (S. 131). In Bonhoeffers Formulierung gibt es übrigens neun und nicht zehn Abschnitte, Er liest, wie in Lutherischen Kreisen gebräuchlich, die ersten zwei Gebote nach Jüdischer Lesart (also der Text Ex. 20, 2-4) als Eins, aber er liest auch, wie die Reformierten gewohnt waren, Ex. 20, 17 als ein Gebot und nicht als zwei, wie Katholiken und Lutheraner zu tun pflegen.
1.
Die Kirche bekennt, ihre Verkündigung von dem einen Gott, der sich in Jesus Christus für alle Zeiten offenbart hat und der keine anderen Götter neben sich leidet, nicht offen und deutlich genug ausgerichtet zu haben. Sie bekennt ihre Furchtsamkeit, ihr Abweichen, ihre gefährlichen Zugeständnisse. Sie hat ihr Wächteramt und ihr Trostamt oftmals verleugnet. Sie hat dadurch den Ausgestoßenen und Verachteten die schuldige Barmherzigkeit oftmals verweigert. Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zu rechter Zeit nicht gefunden. Sie hat dem Abfall des Glaubens nicht bis aufs Blut widerstanden und hat die Gottlosigkeit der Massen verschuldet.
Also nicht zu wenig geliebt und zu wenig bekannt, sondern furchtsam gewesen gegenüber dem Nationalsozialismus[14]und deshalb vom rechten Weg des Glaubens abgewichen und „gefährliche Zugeständnisse“ an den Nationalsozialismus gemacht. Dass dies nach Anlass des ersten Gebotes gesagt wird, macht außerdem deutlich, dass Bonhoeffer die Verehrung des Führers und die Gleichschaltung des ganzen öffentliches Lebens als Götzendienst ansah. Das Wort ‚Wächteramt‘ benutzt Bonhoeffer zum ersten Mal in einem Brief vom 10. November 1935, den er im Namen des Predigerseminars in Finkenwalde an den Bruderrat der Altpreußischen Union schreibt und hierin wird auch sehr präzise deutlich was er mit diesem Begriff meint: „Wir bitten die Kirchenleitung dringlichst, ihres Wächteramtes angesichts eines immer bedrohlicher werdenden pseudochristlichen Staatskultes eingedenk zu sein und in Fortführung der Dahlemer Botschaft vom März diesen Jahres unverzüglich ein klares Wort hierzu zu sagen. Schon früher im Jahr 1935 schreibt Bonhoeffer einen Aufsatz mit dem Titel „Die Bekennende Kirche und die Ökumene“[15], worin er an einen im Januar 1934 von Bischof Bell von Chichester an den Reichsbisschof Ludwig Müller geschriebenen Brief erinnerte, „in de[m] er diesen beschwor, seines Wächteramtes über die evangelische Christenheit in Deutschland eingedenk zu bleiben“ (DBW 14, 380). Wenn man aber den ganzen Text des Briefes[16] liest, stellt man fest, dass Bischof Bell überhaupt nicht vom ‚Wächteramt‘ redet und es also Bonhoeffers Interpretation seiner Worte ist. Das Wort ‚Trostamt‘ ist ein Neologismus, der nie im Duden aufgenommen wurde. Ich vermute, dass Bonhoeffer betonen wollte, dass diese beiden Aktivitäten, wachsam sein und trösten, für die Kirche wesentlich waren, aber unterlassen wurden. Das Wächteramt und Trostamt nicht wahrnehmen heißt also, dass keine Barmherzigkeit an den Ausgestoßenen und Verachteten[17] bewiesen wird, es heißt stumm bleiben, wo man schreien müsste. Mit dem Zitat aus Gen. 4 über das Blut der Unschuldigen nennt er seine Kirche implizit einen Komplize Kains[18]. Dass sie das rechte Wort nicht gefunden hat, ist also nicht zu bedauern oder ein Versehen, sondern Schuld. „Denn ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden“ schreibt der Hebräerbrief 12,4. Dass wirklicher Widerstand Leiden bedeutet (bis aufs Blut) hat Bonhoeffer von Anfang an gewusst. Das gleiche Zitat aus dem Hebräerbrief benutzt er auch schon in einem Brief vom 28. April 1934, den er aus London an seinen schweizer Freund Erwin Sutz schrieb: „Es geht immer um das Halten des Gebotes und gegen das Ausweichen“[19].
2.
Die Kirche bekennt, den Namen Jesu Christi mißbraucht zu haben, indem sie sich seiner vor der Welt geschämt hat und Mißbrauch dieses Namens zu bösen Zwecken nicht kräftig genug gewehrt hat. Sie hat es mitangesehen, daß unter dem Deckmantel des Namens Christi Gewalttat und Unrecht geschah. Sie hat aber auch die offene Verhöhnung des heiligsten Namens ohne Widerspruch gelassen und ihr damit Vorschub geleistet. Sie erkennt, daß Gott den nicht unbestraft lassen wird, der so wie sie seinen Namen mißbraucht.
Ganz ehrlich gesagt, bin ich nicht sehr froh (wie sehr ich Bonhoeffer auch liebe), dass er hier zuerst vom Namen Jesu Christi redet und erst danach vom ‚heiligsten Namen‘. Das wichtigste ist aber, dass er ganz deutlich macht, dass dieses Gebot nicht „du sollst nicht fluchen“ bedeutet, sondern den Namen Gottes missbrauchen, ihn als Deckmantel benutzen. Missbrauch im Sinne dieses Gebotes ist ein Doppelter: es bedeutet diesen Namen nicht benutzen (sich dafür schämen), wo es wohl geschehen soll, und diesen Namen benutzen, wo es nicht geschehen soll. Die Kirche hat sich vor allem am Ersteren schuldig gemacht. Sie hat nicht im Namen Gottes und Christi gesprochen, wo sie es hätte tun sollen, sie ist stumm geblieben. Sie hat nicht protestiert als andere den Namen Gottes und Christi mit ihren eigenen (politischen) Wünschen und Auffassungen verbunden haben. Sie hat nicht protestiert, als Adolf Hitler proklamierte, dass er das Werk Gottes ausführt. Man war sogar froh, dass es wieder einen Führer gab, der an Gott glaubte. Anfang 1934 hatte zum Beispiel Martin Niemöller noch suggeriert, dass es vielleicht gut wäre, wenn alle Pfarrer des Pfarrernotbundes der NSDAP beitreten würden, damit deutlich gemacht wurde, dass sie zwar für die Freiheit der Kirche kämpften aber nichts gegen Hitler oder den Nationalsozialismus hätten. Ich bin mir nicht sicher, was Bonhoeffer meint mit „die offene Verhöhnung des heiligsten Namens“. Es könnte sich hier um Aussagen handeln wie die des Hitlerjugendführers Baldur von Schirach: „Ich glaube nur an Deutschland“, und ähnliche ‚Glaubensaussagen‘wie sie vor allem in Kreisen der SS gebräuchlich waren. Es könnte auch um Aussagen über „den Judengott“ des Alten Testaments gehen, es ist aber anzunehmen, dass Bonhoeffer konkrete Aussagen vor Augen hatte, als er von offener Verhöhnung redete. Wenn dem nicht widersprochen wird, dann wird es akzeptabel gemacht. Die Kirche hat, abgesehen von einem öffentlichen Wort, keine Mittel um hiergegen aufzutreten. Deshalb kann sie nicht anders als erkennen (und hoffen) dass Gott dies nicht ungestraft lassen wird.
3.
Die Kirche bekennt sich schuldig an dem Verlust des Feiertags, an der Verödung ihrer Gottesdienste, an der Verachtung der sonntäglichen Ruhe. Sie hat sich an der Rastlosigkeit und Unruhe, aber auch an der Ausbeutung der Arbeitskraft über den Werktag hinaus schuldig gemacht, weil ihre Predigt von Jesus Christus schwach und ihr Gottesdienst matt war.
Sonntagsruhe hat für Bonhoeffer mehrere Aspekte. Deutlich ist in der Formulierung, dass der Gottesdienst zentral steht. Wenn die Gottesdienste keinen Spirit mehr haben, wenn es nicht mehr spannend, nicht mehr inspirierend ist an einem Gottesdienst teilzunehmen, dann verliert auch der Sonntag seine Feierlichkeit. Er macht hier eine Aussage, die uns auch heute zu denken gibt: wenn es leer wird in den Kirchen, dann hat die Kirche Schuld. Aber er sieht auch den sozialen Aspekt der Sonntagsruhe. Das Leben wird, auch für nichtkirchliche Menschen, rastlos, man verliert Zeit um nachzudenken, um zu sich zu kommen. Und dann gibt es auch noch diejenigen, die unnötig am Feiertag arbeiten müssen, denen es überhaupt nicht möglich ist am Gottesdienst teilzunehmen. Natürlich ist der Beschluss, Sonntagsruhe oder nicht Sonntagsruhe, keine Sache, über die die Kirche zu entscheiden hat. Doch spricht Bonhoeffer auch hier von Schuld. Er meint meines Erachtens nicht, dass die Kirche große Kampagnen für den Erhalt des Feiertages führen soll, sondern dass sie so begeisternd und überzeugend da sein soll, dass jeder sieht, es ist gut, dass es einen Feiertag gibt.
4.
Die Kirche bekennt, an dem Zusammenbruch der elterlichen Autorität schuldig zu sein. Der Verachtung des Alters und der Vergötterung der Jugend ist die Kirche nicht entgegengetreten aus Furcht, die Jugend und damit die Zukunft zu verlieren, als wäre ihre Zukunft die Jugend! Sie hat die göttliche Würde der Eltern gegen eine revolutionierende Jugend nicht zu verkündigen gewagt und hat den sehr irdischen Versuch gemacht „mit der Jugend zu gehen“. So ist sie schuldig an der Zerstörung unzähliger Familien, an dem Verrat der Kinder an ihren Vätern, an der Selbstvergötterung der Jugend und damit an ihre Preisgabe an den Abfall von Christus.
Wer diesen Text heute außerhalb seines historischen Kontexts liest, muss Bonhoeffer wohl für erzkonservativ halten. ‚Wer die Jugend hat, hat die Zukunft‘, das ist auf Deutsch und auf Niederländisch (und wahrscheinlich in mehreren Europäischen Sprachen) ein Sprichwort. Keiner wird heute verneinen, dass es wichtig und nützlich ist auf die Jugend zu hören und sie ernst zu nehmen, auch wenn sie etwas völlig anderes wünschen als wir Älteren für gut halten. Aber das meint Bonhoeffer mit diesem Text nicht. Es gab in Deutschland seit 1934 keinen unabhängigen (kirchlichen oder nichtkirchlichen) Jugendverein mehr, sie waren alle eingegliedert in die Hitlerjugend und Reichsbischof Müller hatte dem sogar zugestimmt. Die s.g. Gleichschaltung hatte dafür gesorgt, dass in der Hitlerjugend und in der Schule dieselbe Sprache gesprochen und dieselbe Ideologie ausgetragen wurde. Mit endlosen ‚Heil Hitlers‘ und militärischer Ausbildung ab den Unterstufen wurden die Kinder diszipliniert. Wie Baldur von Schirach sollten sie nur noch an Deutschland glauben. Sie wurden aufgefordert ihren eigenen Vätern und Müttern nachzuspionieren und sie zu verleumden. Sie sollten das Bewusstsein eines Herrenvolkes entwickeln. Es ging tatsächlich nicht nur um die Vergötterung der Jugend, sondern auch um die Selbstvergötterung der Jugend. Es wurde sie gelehrt an ihre eigene Superiorität zu glauben und es gab kaum Eltern, die es wagten zu widersprechen. Die Jugend war uniformiert und wurde damit deutlich und sichtbar Teil des uniformierten und gleichgeschalteten Deutschlands. Diese jungen Kinder waren es, die sich in den letzten Kriegstagen, meistens gezwungen aber auch sehr oft als Freiwillige, in die deutsche Armee inkorporieren ließen und dabei oft ums Leben kamen. Teilnahme an der Hitlerjugend bedeutete automatisch Abfall von Christus, denn die Hitlerjugend hatte ihre eigenen Rituale und ‚Glaubensbekenntnisse‘. Sie trafen sich in der Regel am Sonntag, um den Kirchgang (das könnte unkontrollierbare Beeinflussung bedeuten) zu verhindern. Bonhoeffer hat sich intensiv mit Jugendangelegenheiten beschäftigt. Am 1. Februar 1933 sprach er im Rundfunk über „Der Führer und der Einzelne in der Jungen Generation“[20]. Bonhoeffers Hauptthese in diesem Vortrag war: Es gibt zwei Arten von Führung, Führung von unten und Führung von oben. Die Führung von unten ist vor Allem an die Person des Führers gebunden, die Führung von oben an das Amt des Führers. Das Amt begrenzt die Freiheit des Führers und das ist gesund. Ohne diese Grenzen kann der Führer zum Verführer werden. Die Gedanken, die wir zurückfinden in diesem Schuldbekenntnis, hat es bei Bonhoeffer schon früh gegeben. Im August 1933 schreibt er acht Thesen zur Jugendarbeit der Kirche[21]. Die erste These lautet: „Es hat seit der Jugendbewegung der kirchlichen Jugendarbeit oft die christliche Nüchternheit gefehlt, aus der heraus allein sie gewußt hätte, daß der Geist der Jugend nicht der Heilige Geist, daß die Zukunft der Kirche nicht die Jugend, sondern der Herr Jesus Christus allein ist. Aufgabe der Jugend ist nicht Neugestaltung der Kirche, sondern Hören des Wortes Gottes, Aufgabe der Kirche ist nicht Eroberung der Jugend, sondern Lehre und Verkündigung des Wortes Gottes.“
Die Kirche erkennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi.
Wer den letzten Satz liest, wird (auch wenn Deutsch nicht seine Muttersprache ist) bemerken, dass ‚Schwächsten‘ und ‚Wehrlosesten‘ als Adjektive eigentlich kleingeschrieben werden sollten. In den beiden Ausgaben von Bethge (1. und 6. Druck), ist das auch gemacht worden. Wahrscheinlich hat Bethge die Kapitalen als Fehler Bonhoeffers angesehen, die er stillschweigend verbessert hat. In der DBW-Ausgabe stehen die Kapitalen wieder im Text, weil man festgestellt hat, dass „Brüder Jesu Christi“ später hinzugefügt wurde. „Wohl um den Hinweis insbesondere auf die Juden unübersehbar zu machen“, schrieben die Herausgeber des DBW-Bandes in einer Fußnote. Durch diesen Zusatz wird der ganze Absatz auf die Judenverfolgung bezogen. Es gab viele Formen der Verfolgung und Diskriminierung, an die die Juden unterworfen wurden, aber Bonhoeffer bringt sie in diesem Abschnitt zusammen, unter der Überschrift „Du sollst nicht töten“. Er wusste, oder vermutete wenigstens, worauf diese Diskriminierung hinauslaufen musste. Sehr viel später haben Amerikanische Bürgerrechtler wie Martin Luther King und Abraham Jehoschua Heschel gesagt und geschrieben: Dass schlechte Menschen schlechte Dinge getan haben war schlimm, aber noch schlimmer war, dass so viele ‚gute‘ Menschen weggeschaut haben. Wir, das heißt die Kirche, schreibt Bonhoeffer, haben es gesehen und wir haben nichts getan. Und deshalb sind wir schuldig. Nicht nur (mit)schuldig an der Diskriminierung, sondern schuldig am ‚Leben‘ der Schwächsten und Wehrlosesten. Warum Bonhoeffer, fast als Einziger, von Anfang an für das Schicksal der Juden empfindlich war, darüber wurde schon sehr viel geschrieben. Das hat zweifellos auch damit zu tun, dass er, anders als die meisten Pfarrer[22], von Jugend an Kontakt mit Juden hatte. Vielleicht hat es mit dem Beruf seines Vaters (dieser war Psychiater und es gab viele jüdische Psychiater) zu tun und später mit seiner Freundschaft mit Franz Hildebrandt und Gerhard Leibholz, dem Ehemann seiner Zwillingsschwester Sabine. Theologisch ringt Bonhoeffer sich erst später zu einem anderen Verstehen des Alten Testaments durch (wie zu lesen ist in Widerstand und Ergebung). In seinen frühen Schriften spricht er noch von der Schuld dieses Volkes und geht aus von dem Gedanken, dass mit Christus die Kirche an die Stelle des jüdischen Volkes gekommen ist. Aber auf der Ebene der sozialen Beziehungen ist Bonhoeffer von Anfang an in seinem Umgang mit Juden unbefangen gewesen. Und gerade in der Ethik, als er wegen der immer deutlicheren und heftigeren Verfolgung der Juden über die Haltung der Kirche gegenüber den Juden nachdenkt, kommt er zu neuen Einsichten und schreibt dann im Kapitel ‚Erbe und Verfall‘ den berühmten Satz: „Der Jude hält die Christusfrage offen“. Es ist schwierig genau fest zu stellen, was Bonhoeffer damit gemeint hat. Soweit ich weiß, hat er es nirgends in seinen Schriften wiederholt oder erläutert. Ich verstehe es so: So lange es Juden gibt, ist die Frage aktuell, ob Jesus der Christus, der verheißene Messias ist. Und so lange es Juden gibt, sollten die Christen in ihrem Handeln, in ihrer Gestaltung Jesu Christi deutlich machen, dass Christus gekommen ist und in seiner Gemeinde existiert. Das Judentum hält den Christen einen Spiegel vor. Wenn dieser Spiegel verschwindet, verschwindet auch das Bild im Spiegel, dann hat das Christentum kein „gegenüber“ mehr.
Die Kirche bekennt, kein wegweisendes und helfendes Wort gewußt zu haben zu der Auflösung aller Ordnung im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Sie hat der Verhöhnung der Keuschheit und der Proklamation der geschlechtlichen Zügellosigkeit nichts Gültiges und Starkes entgegensetzen gewußt. Sie ist über eine gelegentliche moralische Entrüstung nicht hinausgekommen. Sie ist damit schuldig geworden an der Reinheit und Gesundheit der Jugend. Sie hat die Zugehörigkeit unseres Leibes zum Leib Christi nicht stark zu verkündigen gewußt.
Am 12. Dezember 1935 wurde in Berlin von Heinrich Himmler, dem Reichsführer der SS, der Lebensborn Verein gegründet. In den zwanziger und dreißiger Jahren war die Geburtenziffer in Deutschland ernsthaft zurückgegangen, von fast 900.000 in 1920 bis auf etwas mehr als 500.000 im Jahr 1932. Die Zahl der Abtreibungen war im Laufe der dreißiger Jahre sogar höher als die Zahl der Geburten. Am Anfang sollten die Lebensbornhäuser vor allem (unverheiratete) schwangere Frauen und Mädchen versorgen (und damit einer Abtreibung vorbeugen) bis nach der Geburt. Blieben die Frauen und Mädchen unverheiratet, dann konnten sie ihre Kinder in den Lebensbornhäusern für Versorgung zurücklassen oder zur Adoption (Familien von SS-Angehörigen hatten Vorrang) freigeben. Bedingung war, dass die Mütter Beweise vorlegen konnten, dass sie rein arischer Abstammung waren. Als um das Jahr 1940 deutlich wurde, dass die Geburtenziffer immer noch zu wenig ansteigt, wird SS-Soldaten und Offizieren geraten wo möglich arisch aussehende Mädchen schwanger zu machen und zu den Lebensbornhäusern zu bringen. Insbesondere norwegische Mädchen waren populär, weil sie als sublim nordische Rasse galten. In Norwegen wurden auch Lebensbornhäuser gegründet.
„Gut ist was dem Volke nutzt“. Das war der Ausgangspunkt der ‚Nationalsozialistischen Ethik‘. Wenn das Volk mehr Kinder braucht, dann soll es mehr Kinder bekommen. Auch die Sexualauffassungen wurden dem untergeordnet. Sexueller Verkehr mit Nichtarischen wurde streng bestraft, sexueller Verkehr vor allem von SS-Leuten mit ‚Reinrassischen‘ war in Ordnung, innerhalb oder außerhalb der Ehe, freiwillig oder gezwungen. Es geht Bonhoeffer auch hier in erster Instanz nicht um ein moralisches Urteil, sondern um Protest gegen diese Praxis. Deshalb spricht Bonhoeffer nicht von der geschlechtlichen Zügellosigkeit, sondern von der ‚Proklamation‘ der geschlechtlichen Zügellosigkeit. Individuelle sexuelle Überschreitungen hat die Kirche getadelt, aber über diese ‚Proklamation‘ von Seiten des Staates hat sie geschwiegen. Dadurch ist sie „schuldig geworden an der Reinheit und Gesundheit der Jugend“. Bonhoeffer sagt nicht, dass die Kirche an der Zügellosigkeit der Jugend schuldig ist. Gegen diese hat sie noch ihre „moralische Entrüstung“ kenntlich gemacht. Aber dass sie geschwiegen hat über diese neue ‚Staatsmoral‘, damit hat sie der Jugend geistlich, moralisch und physisch geschadet. Man könnte fragen: ‚Was hätte sie dann überhaupt dagegen machen können‘. Bonhoeffer sagt: sie hätte ihre Jugend durch die richtige Verkündigung moralisch und geistlich zurüsten können. Bonhoeffer verspricht sich hier noch sehr viel von der Verkündigung und was sollten wir als Diener und Dienerinnen des göttlichen Wortes auch anderes machen. Es wird nicht mehr lange dauern bis Bonhoeffer schreiben wird: „Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d.h. eben die Zeit der Religion überhaupt.“[23] Natürlich wollen wir keine Moralprediger sein, und es ist – auch in unserer Zeit – unwahrscheinlich schwer das richtige Wort – noch abgesehen von der Frage, ob es gehört wird – zu finden und zu sprechen. Aber wir können nicht anderes sagen als, dass Bonhoeffer hier ein biblisches und ein richtiges Wort gesprochen hat: Auch unsere Leiber gehören zum Leib Christi, und wir sollten darüber nachdenken, was das zu bedeuten hat.
7.
Die Kirche bekennt, Beraubung und Ausbeutung der Armen, Bereicherung und Korruption der Starken stumm mitangesehen zu haben.
Es ist viel darüber gesprochen und geschrieben worden – gerade weil er selbst in seinen Schriften darüber nie vollkommen deutlich gewesen ist – wo Bonhoeffer politisch gestanden hat. Wir wissen, dass er in 1933 erklärt hat die Zentrumpartei gewählt zu haben, weil er hoffte, dass diese Partei – weil seiner Ansicht nach Kommunisten und Sozialisten sowieso aus dem Reichstag vertrieben werden würden – als einzige vielleicht noch Opposition gegen Hitler machen könnte. Hier spricht Bonhoeffer bewusst das Soziale an. Ich habe den Eindruck, dass er hier nicht speziell über die Nazizeit spricht, sondern von einer längeren Geschichte, in der sich die Kirche in der ‚Sozialfrage‘ abseits gehalten hat (oder vielleicht sogar auf der falschen Seite gestanden hat). Das Gebot lautet: „Du sollst nicht stehlen“ und auch hier versucht Bonhoeffer dieses Gebot gesellschaftlich zu verstehen und macht damit eine politische Aussage: Ausbeutung der Armen ist stehlen! Die Kirche hat nicht auf der Seite der Armen und Ausgebeuteten gestanden und damit hat sie sich schuldig gemacht. Ich vermute, dass Bonhoeffer sogar in dieser Pflichtverletzung der Kirche eine Mitursache des Erfolges des Nationalsozialismus gesehen hat. Auch die NSDAP hat sich selbst verstanden als eine – sei es auch pervertierte – Arbeiterpartei, auch sie hat ihre Mitglieder rekrutiert aus Menschen, die von der Kirche enttäuscht waren. In dem oben zitierten Brief vom 30. April 1944 spricht Bonhoeffer auch von „de[m] religionslosen Arbeiter oder Menschen überhaupt“ [24] und ich glaube, dass Bonhoeffer in diesem Absatz, Beziehung nehmend auf das Bibelwort „Du sollst nicht stehlen“, sagen will: Die Religionslosigkeit der Arbeiter ist Schuld der Kirche. Auch hier hat sie das befreiende Wort für die Armen nicht überzeugend genug (oder gar nicht) verkündigt. Bis jetzt hat Bonhoeffer von ‚angesehen‘, ‚geschwiegen‘, ‚stumm‘ und ‚mitangesehen‘ gesprochen, hier schreibt er als eine Art Klimax: ‚stumm mitangesehen‘. Die Kirche war auch wirklich nicht die einzige; eine ganze Gesellschaft hat es erlebt und – mit Ausnahme der Arbeiterbewegung – über dieses Unrecht geschwiegen. ‚Stumm‘ ist hier stärker als ‚schweigend‘. Durch stumm zu bleiben wird jemand stumm gemacht.
8.
Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu sein an den Unzähligen, deren Leben durch Verleumdung, Denunzieren, Ehrabschneidung vernichtet worden ist. Sie hat den Verleumder nicht seines Unrechts überführt und hat so den Verleumdeten seinem Geschick überlassen.
Hier wird nicht davon gesprochen, dass sie dieses Übel mitangesehen hat, sondern einfach, dass die Kirche schuldig geworden ist. Das könnte heißen, Bonhoeffer meinte, dass die Kirche sich selber an diesen Verleumdungen beteiligt hat, aber wenigstens, dass sie versäumt hat etwas dagegen zu sagen und so versäumt hat die Verleumdeten in Schutz zu nehmen. Denunzierung konnte zum Tod des Denunzierten führen. Vor allem nach Kriegsbeginn und immer stärker als es Deutschland im Krieg schlechter ging, wurden Menschen, die sich negativ über den Krieg geäußert hatten, oder von denen behauptet wurde, dass sie sich negativ geäußert hätten, sehr streng bestraft. Auch in der Kirche war die Angst vor Verleumdung groß. Vielleicht gab es Menschen, die mitschrieben was der Pfarrer sagte. Weil man es nicht wagte etwas darüber zu sagen, wuchs die Angst und entstand eine Atmosphäre, in der jeder jedem misstraute. Die Verleumdung war übrigens auch ein Kampfmittel innerhalb der Partei. In Ungnade gefallene hohe Funktionäre wurden nicht selten zum Zurücktreten oder sogar zum Selbstmord gezwungen, z.B. weil erzählt wurde, sie seien homosexuell oder sie hätten eine außereheliche Beziehung. Die einfache Tatsache, dass Bonhoeffer das hier schreibt – obwohl er wusste, dass er das während des Krieges nie publizieren konnte – war unwahrscheinlich mutig.
Die Kirche bekennt, begehrt zu haben nach Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre, auf die sie keinen Anspruch hatte und so die Begierden der Menschen nicht gezügelt, sondern gefördert zu haben.
Das Evangelium von ‚greed is good’ musste damals noch geschrieben werden und Alles was Bonhoeffer hier aufzählt gilt jetzt als nacheifernswert. Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre, was ist dagegen? Das sowieso schon schwierig auszulegende Gebot ‚Du sollst nicht begehren‘ wird von Bonhoeffer noch schwieriger gemacht. Er wirft die Frage auf: was begehren wir eigentlich? Unsere eigene Sicherheit, unsere eigene Ruhe usw.? Ich höre hier in erster Instanz Bonhoeffers Kritik an der Kirche (die Bekennende Kirche nicht ausgenommen), die er später in Widerstand und Ergebung deutlicher formulieren wird: Die Kirche ist vor Allem beschäftigt mit Selbsterhalt! Sie will die Möbel retten. Sie hat sich nicht gefragt, ob ihre Sicherheit auch die Sicherheit von Anderen bedeutete usw., sie hat einfach ihre eigenen Interessen vertreten und hat so dazu beigetragen, dass alle Menschen ebenso ihren eigenen Interessen nachjagten. Je größer die Angst, je größer die Unsicherheit, umso mehr werden die eigenen Sachen, die eigenen Kinder, die eigenen Familien verteidigt. Das hört sich als eine normale menschliche, allzu menschliche Angelegenheit an, aber wenn Alle das machen, wie soll es dann denjenigen gehen, die keine Helfer haben, deren Sicherheit, Ruhe, Friede, Besitz, Ehre geraubt wird? Da macht man sich schuldig, und vor allem die Kirche, die gerade für diejenigen da sein soll, die keine Helfer haben, macht sich schuldig. Eine Kirche die für Andere da ist, wäre eine Kirche, die einstehen will für Sicherheit, Ruhe, Besitz und Ehre von Anderen.
„Die Kirche bekennt sich schuldig aller 10 Gebote, sie bekennt darin ihren Abfall von Christus“, schreibt Bonhoeffer dann als Schlussfolgerung. In der Lutherischen Liturgie werden die zehn Gebote am Bußtag gelesen. Wenigstens einmal im Jahr sollte die Kirche sich fragen, was sie falsch gemacht hat, und in wie fern sie die Gebote übertreten hat. Ich glaube deshalb nicht, dass dieser Text als Schuldbekenntnis für die Kirche, um nach den Krieg aus zu sprechen, gemeint ist (es wäre trotzdem nicht schlecht gewesen wenn sie das gemacht hätte), sondern als Aufforderung zum Schuldbekenntnis in der konkreten Situation der Kirche im Jahre 1940/1941 gedacht war. Indem Bonhoeffer diesen Text in seine Ethik aufnimmt [25], wird er zum Beispiel: so kann man als Kirche (vielleicht jedes Jahr) ein konkretes und aktuelles Schuldbekenntnis formulieren. Das stimmt nach meiner Einsicht überein mit Bonhoeffers positiver Wertung der Beichte, über die er in Gemeinsames Leben schrieb. So wie der individuelle Christ regelmäßig seine Beichte spricht, so soll die Kirche das als Kirche auch kollektiv tun. Ob er dabei an Bußtag gedacht hat, oder an den Jüdischen Brauch des Jom Kippurs, können wir leider nicht mehr feststellen, aber sicher ist, dass Bonhoeffer diese Praxis für wichtig hielt. Schon im Frühjahr 1947 (es gab noch kaum Papier, um Bücher drucken zu lassen) erschien Walter Kunneths Schrift: „Der Große Abfall“. Er wusste ganz genau wer schuld war, es war die Säkularisierung, die mit Darwin und Nietzsche angefangen hat. Die Schuld lag also außerhalb der Kirche, und das einzige was die Kirche sich vorzuwerfen hatte, war, dass sie die Tarnung, mit der der unchristliche Nationalsozialismus sich als christlich ausgegeben hat, nicht immer sofort durchschaut hatte. Wie anders schreibt Bonhoeffer: Die Kirche hat ihren Abfall von Christus zu bekennen. Sie sagt damit nicht, das Andere keine Fehler gemacht haben, aber sie weiß, ein Schuldbekenntnis wird gemacht ohne auf die Schuld des Anderen zu blicken. Die Kirche sieht primär ihre eigene Schuld und dadurch, dass sie diese Schuld öffentlich vor Gott und vor der Welt bekennt, ruft sie auch Andere auf über ihre Schuld nachzudenken und diese zusammen mit der Kirche zu bekennen.
Das Darmstädter Wort
Ob Hans Joachim Iwand (oder Martin Niemöller, Karl Barth oder Hermann Diem, die auch am Darmstädter Wort mitgeschrieben haben) Bonhoeffers Text gekannt hat, wissen wir nicht absolut sicher, aber es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass dies nicht der Fall war. Die erste Ausgabe der Ethik erschien erst in 1949, das Vorwort Eberhard Bethges war datiert am 9. April 1948. Während des Krieges war es außerordentlich gefährlich von diesem Text zu wissen, wahrscheinlich hat zu dieser Zeit nur Bethge Kenntnis aller Texte gehabt. Erst nach dem Krieg kamen die Texte wieder aus ihrem Versteck und wurden von Bethge bearbeitet. Aber das wichtigste Argument ist doch, dass keiner der oben genannten Schriftsteller auf den Text Bonhoeffers verwiesen hat. In wie weit Bonhoeffer und Iwand einander kannten, ist auch nicht ganz deutlich. Natürlich wussten sie voneinander. Sie waren in den Jahren 1935-1937 ‚direkte Kollegen‘ als Bonhoeffer mit der Leitung des Predigerseminars der BK für Pommern in Finkenwalde beauftragt und Iwand für das Seminar in Bloestau für Ostpreußen zuständig war. Jürgen Seim schreibt in seiner Biographie Iwands[26], dass Iwand und Bonhoeffer sich vermutlich erstmals im niederländischen Doorn bei einer Konferenz vom 14. bis 16. April 1936 trafen. Ich nehme an, dass die Vermutung Seims falsch ist. Bethge spricht in seiner Bonhoefferbiographie überhaupt nicht von einer Reise Bonhoeffers in die Niederlande. Dass dieses stattgefunden hätte und von Bethge nicht erwähnt wurde, ist umso unwahrscheinlicher, weil er dort Barth getroffen hätte, und Bethge über alle Begegnungen Bonhoeffers mit Barth ausführlich schreibt. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Beiden sich schon eher, nämlich auf der Steglitzer Synode der Bekennenden Kirche der Altpreußischen Union vom 23. bis 26. September 1935, begegnet sind. Hans Joachim Iwand war anwesend als Abgeordneter von Ostpreußen, hat auf dieser Synode auch eine Morgenandacht (über die Nachfolge) gehalten, Dietrich Bonhoeffer war als Gast anwesend mit seinen Seminaristen – Wilhelm Niemöller[27] und Bethge sprechen beide (Niemöller in Nachfolge von Bethge) von einer ‚Pressure-group‘. Es ging ja um die Zukunft der Bekennenden Kirche und damit auch um ihre Zukunft. Mit Bonhoeffer hofften die jungen Gäste – und dafür kämpften sie auch -, dass nicht von der Dahlemer Linie abgewichen wurde.
Ganz bestimmt haben Bonhoeffer und Iwand einander auf einer Sitzung der Predigerseminardirektoren am 27. April 1936 getroffen. In den ersten zwei Wochen vom August 1936 war die Olympiade in Berlin. Die Kirchenausschüsse der Reichskirche machten ein Angebot für die Gäste der Spiele, und der Berliner Bruderrat machte ein eigenes Angebot: In der ersten Woche gab es Vorträge von Gerhard Jacobi, Bonhoeffer und Iwand, in der zweiten Woche von Asmussen, Dibelius und Niemöller. Bis zur Verhaftung Bonhoeffers im Vorjahr 1943 haben die Beiden einander noch einige Male getroffen. Als ‚Dahlemiten‘ im Kampf verbunden, aber lange nicht in allem übereinstimmend. Bonhoeffer fand zum Beispiel die Entmythologisierungsthese von Bultmann spannend, Iwand fand sie schrecklich. Bonhoeffer war von Anfang an Kriegsgegner, Iwand gestand später, als er sich deutlich gegen den Atomkrieg aussprach, „dass er nicht als Kriegsgegner geboren war“[28]. Ob Iwand, wenn er das Schuldbekenntnis von Bonhoeffer 1941 gekannt hätte, mit dessen Radikalität eingestimmt hätte, bezweifle ich, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass er keine Probleme mit Bonhoeffers Aussagen über die Juden gehabt hätte. Ob Bonhoeffer, wenn er gelebt hätte, 1947 eingestimmt hätte mit Iwands (viel radikaleren) Darmstädter Wort, bezweifle ich auch. Aber, dass Iwand sich nicht gegen Bonhoeffers Bekenntnis und Bonhoeffer sich nicht gegen Iwands Darmstädter Wort ausgesprochen hätte, davon bin ich überzeugt. Ich sage das deshalb, weil im Darmstädter Wort der Geist Barmens (im definitiven Text vor allem wegen des Beitrages Karl Barths) deutlich zu spüren ist und Bonhoeffer sich auch nie gegen Barmen ausgesprochen hat, trotz des offensichtlichen Defizits, dass nicht vom Schicksal der Juden gesprochen wurde.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Texten besteht darin, dass anders als in Bonhoeffers Text in Iwands Text und auch im definitiven Text des Darmstädter Wortes, kein Wort über die Juden, oder über die Schuld der Kirche oder der Deutschen den Juden gegenüber geschrieben wurde. Vor Allem bei Iwand ist das auffällig, weil er wie Bonhoeffer im persönlichen Kreis Juden kannte. Seine Schwiegermutter war jüdischer Abstammung und ein Schwager war, weil Jude, emigriert. Dass in Barmen nicht von den Juden gesprochen wurde, kann man ohne damit einzustimmen einigermaßen verstehen: Wäre da von der Judendiskriminierung gesprochen worden, dann hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach nie Barmer Thesen gegeben. Aber weshalb wurde in 1947, als es nicht mehr gefährlich war, noch immer geschwiegen? Vielleicht hat hier eine Rolle gespielt, dass das Darmstädter Wort nicht als Schuldbekenntnis sondern als „Wort zum politischen Weg unseres Volkes“ geschrieben wurde. Das die überlebenden Juden darin kaum noch eine Rolle spielten war deutlich, könnte man mit dem nötigen Zynismus feststellen. Oder hatte man wirklich geglaubt, dass die Judenverfolgung ausschließlich Sache der Nazis gewesen sei, und die Kirche sich darin nicht schuldig gemacht hätte? Oder war es in der Formulierung „aller Schuld“ inbegriffen? Aber wenn dass der Fall war, sollte man doch auch die Notwendigkeit gespürt haben, das explizit zu sagen. Seim schreibt in seiner Biographie: „Die 1947 das Darmstädter Wort sprachen, taten das in einem Augenblick, in dem die unselige Ost-West-Spaltung nicht allein Europas, sondern der Welt sich abzeichnete und in dem die antikommunistische Tradition des Faschismus und Nationalsozialismus ungebrochen fortgeführt wurde. In dem Augenblick war nicht dem Antisemitismus, der noch verlegen und feige schwieg, sondern dem lautstarken Antikommunismus, der sich religiös artikulierte, zu begegnen.“[29] Da ist natürlich etwas Wahres dran, aber ich musste sofort daran denken, das Barth, als Bonhoeffer ihn im September 1933 bat, seine Aktionen gegen die Einführung des Arierparagraphs in der Kirche der altpreußischen Union zu unterstützen, geantwortet hat, dass es wichtigere Sachen gäbe. Es gab immer wichtigere Sachen, und deshalb wurde fast von Allen immer geschwiegen. Und Bonhoeffer war 1947 nicht mehr da, um seinen Mund wegen der Juden aufzumachen.
Der Anlass der Thesen Iwands[30] war eine Diskussion im Bruderrat der Evangelischen Kirche, wo Barth auf der Sitzung vom 5. Und 6. Juli 1947 einen Vortrag gehalten hat über „Die Kirche – die lebendige Gemeinde des lebendigen Herrn Jesu Christi“[31]. In dieser Diskussion hat Iwand von der Gefahr des Nationalismus[32] gesprochen und Karl Barth hat erklärt, dass er damit völlig einverstanden war. Er hat dem Bruderrat geraten, um Iwand um den Entwurf von Sätzen „zu unserer politischer Situation, d.h. zur notwendigen politischen Entscheidung des Christen“ zu bitten.[33]
1.
Die Gemeinde Jesu Christi ist die Gemeinde derer, die das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus hören, annehmen und tun. Der Dienst der Versöhnung wird aber verleugnet und nicht ausgerichtet, wenn wir uns nicht freisprechen lassen von aller Schuld, nicht nur der privaten, sondern auch der politischen, und uns von Jesus Christus, den guten Hirten, heimrufen lassen von den falschen und bösen Wegen, auf denen wir als Deutsche in die Irre gegangen sind.[34]
Inhaltlich ist an dieser These kaum etwas geändert, aber die kleinen Änderungen im Wortlaut sind nicht unbedingt unwichtig. Die Umschreibung der Gemeinde Jesu Christi als die Gemeinde, die das Wort der Versöhnung gehört hat, wird in dem definitiven Text des Wortes ersetzt durch ‚uns‘. Das hört sich zwar flotter an, aber ruft die Frage hervor, wer diese ‚uns‘ sind: die Unterzeichner des Wortes, die deutsche Kirche, das deutsche Volk? Die wichtigste Änderung im Text ist das Verschwinden des Wortes ‚politisch‘ in der Umschreibung der Schuld. Man könnte vielleicht sagen, dass dies ‚politische‘ Bedeutung hatte. In Barths Vorlage ist das Wort noch anwesend, in Niemöllers Version ist es verschwunden. Ich nehme an, das hier eine Rolle spielt, dass von den Genannten Niemöller als einziger Mitglied des Rates der EKD ist, er ist sogar der stellvertretende Vorsitzende. Er weiß wahrscheinlich, dass u.a. Dibelius (Vorsitzender) und Wurm keine politischen Aussagen möchten. Als der Text, ohne das Wort ‚politische Schuld‘, schließlich vom Bruderrat festgelegt wurde, beschloss man ihn einfach im Namen des Bruderrats zu veröffentlichen und nicht erst die Zustimmung des Rates der EKD abzuwarten. Statt „aller Schuld, nicht nur der privaten, sondern auch der politischen“ wird es dann: „unserer gesamten Schuld, von der Schuld der Väter wie von unserer eigenen“. Es ist deutlich, dass die erste Formulierung die präzisere ist. Was heißt hier „Schuld der Väter“? Es kann sich nicht um das Sich-schuldig-machen während der Hitlerzeit handeln. Denn diese liegt ja erst zwei Jahre zurück. Deshalb könnte man diesen Satz sogar als eine Relativierung dieses Sich-schuldig-machens lesen, wie: ‚Die Kirche hat sich ja immer schuldig gemacht, auch in der Zeit unserer Väter.‘ Vielleicht soll man es (mit zum Beispiel Prolingheuer) positiver auslegen: Die Schuld der Väter ist die Schuld für das, was letztendlich zum Nationalsozialismus und zum Weltkrieg geführt hat. Der Kern, der meines Erachtens lautet: die Kirche kann nur von Versöhnung reden, wenn sie auch selbst Schuld bekennt, ist aber in der endgültigen Version intakt geblieben. Anders als im Schuldbekenntnis Bonhoeffers wird hier gesprochen von „sich freisprechen zu lassen“. Bonhoeffer sagte nur: „wir bekennen, dass wir schuldig geworden sind“. Die Vergebung oder Freisprechung ist Gottes Sache. Darauf hoffen wir und daran glauben wir, aber die können wir – so wird Bonhoeffer gedacht haben – nicht im Voraus in der Formulierung aufnehmen. Rosemarie Müller- Streisand schrieb nach Anlass des vierzigsten Jahrestages des Darmstädter Wortes, das Wichtigste war, dass in dieser These nicht von der Versöhnung von Gott mit uns, sondern von der Versöhnung von Gott mit der Welt gesprochen wurde[35] Hierin waren Bonhoeffer und Iwand sich vollkommen einig!
2.
Wir sind in der Irre gegangen, als wir begonnen haben, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen und damit den Glauben an den schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht zu begründen. Wir haben damit den Beruf aufgegeben und verfehlt, im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker mit den uns verliehenen Gaben mitzuarbeiten und der Stadt Bestes zu suchen.
Im Vergleich zum endgültigen Text, kann man feststellen, dass die Formulierung Iwands benutzt wurde, um – ohne wesentliche inhaltliche Eingriffe – das hier Gesagte noch präziser und in diesem Fall auch schärfer zu formulieren. Aus der Vorlage Barths wurde (nach ’begründen‘) hinzufügt: „Es war verhängnisvoll, dass wir begannen, unseren Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen.“ Iwand spricht von einem „Traum einer besonderen deutschen Sendung“. In seiner ausführlichen ‚Auslegung’ des Darmstädter Wortes[36] schreibt Hermann Diem: „Nicht das ist unsere Schuld, dass wir wie alle anderen Völker ein nationales Selbstbewusstsein und den Willen zu nationaler Selbsterhaltung hatten und haben, sondern dass wir darin maßlos geworden sind, und uns durch den Glauben an eine besondere messianische (Kursiv von mir, w.v.) Sendung des deutschen Volkes verblenden ließen.“ „Eine besondere Sendung“ kann man primär als politische Sendung verstehen. Durch die Andeutung ‚messianisch‘ macht Diem deutlich (und ich bin geneigt zu denken, dass das auch in der Formulierung Iwands so verstanden werden muss), dass es nicht nur um die politische Sendung geht, sondern auch um die ‚theologische‘ Unterbauung. In der Heiligen Schrift lesen wir über die messianische Sendung des jüdischen Volkes ‚ein Volk von Priestern‘ zu sein. In der völkischen und deutschnationalen Theologie wird das so erklärt, dass jedes Volk seine eigene besondere Sendung hat. Daraus spricht ein bestimmter Neid auf das jüdische Volk. Was man theologisch schon seit Jahrhunderten gelehrt hatte, dass das Christentum an Stelle des jüdischen Volkes Volk Gottes geworden war, das sollte auch politisch realisiert werden. Es ist ein Traum, sagt Iwand zurecht, eigentlich möchten wir als Deutsche das auserwählte Volk sein.
Aus dieser Sendung ergibt sich ein Zweites, dass wir verstehen können als den Gedanken: der Zweck heiligt die Mittel. Weil es um eine besondere Sendung unseres Volkes geht sind auch besondere Maßnahmen gerechtfertigt, um diese Sendung zu realisieren. Nicht träumen von einer besonderen Sendung heißt mitarbeiten an den gemeinsamen Aufgaben der Völker. Der deutsche Austritt aus den Völkerbund in 1936 war ein Zeichen an der Wand. Ein neuer Alleingang Deutschlands sollte nicht zum „politischen Weg unseres Volkes“ gehören.
3.
Wir sind in die Irre gegangen, als wir begonnen haben, eine christliche Front gegenüber den notwendigen gesellschaftlichen Neuordnungen im modernen Leben der Menschen aufzurichten. Das Bündnis der Kirche Jesu Christi mit den konservativen Mächten hat furchtbare Folgen gezeitigt. Wir haben die christliche Freiheit preisgegeben, Lebensformen zu ändern, wenn das Leben der Menschen solche Wandlungen erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution abgelehnt, aber die Entwicklung zur schrankenlosen Diktatur gerechtfertigt.
Obwohl hier eine sehr radikale Sprache gesprochen wird, wurde am Text Iwands kaum etwas geändert. Das verlief aber nicht ohne Kampf. Die Vorlage Niemöllers macht deutlich, dass er am liebsten die meisten politischen Formulierungen vermieden hätte. Vor allem das Wort ‚konservativ‘ war umstritten, denn das hieße, dass die Kirche sich für eine bestimmte politische Strömung oder doch wenigstens gegen eine bestimmte politische Strömung ausspräche. Karl Barth hat dies in seinem Entwurf sogar noch radikalisiert, indem er die konservativen Mächten konkret benannt hat und (zwar in Klammern) hinzugefügt hat: Monarchie, Adel, Armee, Großgrundbesitz und Großindustrie. Diese Präzisierung hat, wie man schon vermuten konnte, die letzte Redaktion nicht überlebt. Auf Vorschlag Niemöllers wird statt ‚konservativen Mächten‘ geschrieben: ‚das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten‘. Außerdem wurde das Wort ‚modern‘ gestrichen und ersetzt durch ‚gesellschaftlich‘, m.E. in diesem Zusammenhang ein nichtssagendes Wort. Aber die Kirche hält nicht viel vom ‚modernen Leben‘ und würde das Wort wahrscheinlich als Provokation auffassen. Ich glaube, Iwand hat an das moderne Leben der zwanziger Jahre gedacht. Der Kaiser und alle Landesfürsten waren gegangen und es sollte ‚notwendige gesellschaftliche Neuordnungen‘ geben. Aber das hat die Kirche nicht gewollt, und sie haben zusammen mit Monarchisten und Deutschnationalen eine Front gegen diese Neuordnungen gebildet. Diese Weigerung hat ‚furchtbare Folgen gezeitigt‘ und damit wird gemeint sein, dass diese Entwicklung zur definitiven Spaltung zwischen Kirche und Arbeiterschaft geführt hat. Niemöller ersetzt ‚furchtbare Folgen‘ durch ‚hat sich schwer an uns gerächt‘. Das letzte stimmt natürlich auch, aber ist doch zu viel an der Kirche orientiert, während die ‚Folgen‘ sich beschäftigen mit dem Elend, das dadurch über die ganze Gesellschaft gekommen ist. Der entscheidende Ausdruck in dieser These ist jedoch – und das ist nicht verändert – ‚christliche Front‘. Denn das ist zwar eine historische Bezeichnung für das, was in den zwanziger Jahren geschehen ist, und mit der vielleicht auch an die Harzburger Front zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten aus den dreißiger Jahren referiert wird, aber es ist auch eine Warnung gegen die Bildung einer neuen christlichen Front gegen Sozialisten und damit gegen den aufkommenden Kalten Krieg. Die ganze Zeit der Weimarer Republik wird dann zusammengefasst im letzten Satz dieser These. Das Recht zur Revolution (und damit ist die sozialistische Revolution gemeint) wurde abgelehnt, aber die Entwicklung zur schrankenlosen Diktatur (die übrigens von den Nationalsozialisten auch als Revolution verstanden wurde) wurde gerechtfertigt.
4.
Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten auf politischem Wege bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle vertauscht mit der Selbstgerechtigkeit des Nationalismus.
Der Text wurde letztendlich nur wenig geändert, aber Iwand muss irgendwie enttäuscht gewesen sein, dass das Wort ‚Nationalismus‘ weggelassen wurde. Es ging ihm ja gerade darum: dass die Kirche sich aussprechen würde gegen den neu aufkommenden Nationalismus (Fußnote 33). Auch in der nächsten These wurde ‚Nationalismus‘ gestrichen, so dass dieser Begriff im ganzen Darmstädter Wort nicht mehr benutzt wird. Das Wort fehlt übrigens sowohl in der Bearbeitung Niemöllers als auch in der Vorlage Barths. Über Niemöllers Korrekturen schreibt Prolingheuer zurecht: „In seinem Entwurf tilgt er alle politischen Reizworte, mit denen Iwand direkt auf die Deutschnationalen zielt.“[37] Unter ‚Selbstgerechtigkeit des Nationalismus‘ verstehe ich die Auffassung: ‚Es ist recht, weil es im Interesse meines Volkes ist‘. Eine Argumentation die auch später noch häufig benutzt wurde, ob es nun um die Invasion der Vereinigten Staaten in Grenada ging oder um die Besetzung der Krim durch das Russland Poetins. ‚Glauben an das freie Angebot der Gnade Gottes an alle‘ muss dann heißen: auch unsere politischen ‚Gegner‘ gehören zu der Welt, mit der Gott sich in Christo versöhnt hat. Es ist deutlich, dass diese These in zwei Richtungen weist. Einerseits wird zurückgeblickt und gesagt: es war Falsch, als wir mit Hitler meinten, dass wir uns mit allen nationalen Kräften (die Front der Guten) gegen die Bösen (den Bolschewismus, das Judentum) vereinigen sollten. Andererseits wird schon vorausgeblickt in die nahe Zukunft (die sich damals schon ankündigte), wo der Westen sich gegen den Osten und die kapitalistische Welt sich gegen die sozialistische Welt aufstellen würde. Dass die Kirchen damals (1947) schon oder schon wieder davon überzeugt waren, dass das Böse aus dem Osten kommt, ist klar.
Noch immer werden nationalistische und politische Parolen, die den Ausgangspunkt für die Katastrophe von 1933 bildeten, weiter gepflegt und zur Selbstrechtfertigung gebraucht. Die Gemeinde Gottes auf Erden sollte sich reinigen von allen bösen Gedanken und frei bleiben im Spiel der weltlichen Mächte. Sie wird aber diese Reinheit ihres Dienstes und die Freiheit ihres Zeugnisses verlieren, wenn sie sich noch einmal bestimmen läßt von der Parole: Christentum oder Marxismus. Diese Parole hat uns verführt zu schweigen, als wir zum Zeugnis für Recht und Freiheit gefordert waren, und denen politisch zu folgen, denen wir als Christen widerstehen mußten.
Vom Wortlaut dieser These ist im endgültigen Text des Darmstädter Worts kaum etwas zurück zu finden. Martin Niemöller hat diesmal den Text größtenteils intakt gelassen, aber Karl Barth kam mit einer neuen Formulierung, die dann leicht redigiert übernommen wurde. Der neue Text lautete: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.“
Man kann nicht sagen dass diese oder jene Formulierung radikaler ist, aber sie betonen etwas Verschiedenes. In Iwands These geht es um die (er wiederholt das Wort sogar dreimal) ‚Parolen‘. Die politischen Bewegungen und Parteien geben Parolen aus und folgen ihnen. Die Kirche hält sich nicht an Parolen, sondern an das Wort Gottes. Die verführerische Parole lautete: Christentum oder Marxismus. In den Niederlanden wurde gesagt: Mussert oder Moskau (Anton Mussert war der Führer der Nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande). Weil wir, meint Iwand, zu dieser Wahl (die dann natürlich eine Wahl für das Christentum sein sollte) gezwungen wurden, sollten wir über alles Unrecht, das im Kampf gegen dem Marxismus begangen wurde, schweigen. Und anschließend sagt er etwas, das nun leider nicht mehr im Darmstädter Wort zu hören ist: wir sind denjenigen gefolgt, denen wir als Christen widerstehen mussten. Wie das Wort ‚Nationalismus‘ ist letztendlich auch das Wort ‚Widerstand‘ aus dem definitiven Text verschwunden. Anders als Iwand ist Karl Barth immer Mitglied einer Sozialistischen Partei gewesen, zuerst in der Schweiz und später, als er deutscher Staatsbürger geworden war, auch in der SPD. Es könnte sein, dass er sich deshalb nicht gegen alle „weltlichen Mächte“ kehren will. Man kann es sogar als eine Verteidigung seiner politischen Stellungnahme hören, wenn er vom ökonomischen Materialismus des Marxismus spricht (von welchem die SPD sich in jener Zeit schon verabschiedet hatte) und sagt, dass hätte die Kirche daran erinnern können, dass sie auch einen sozialen Auftrag hat. Wenn man den Gegensatz zwischen Iwand und Barth kurz bezeichnen will, dann könnte man sagen: Iwand bedauerte, dass die Kirche sich gegen den Sozialismus zur Wehr gesetzt hat und damit an der falsche Stelle politisch tätig geworden war. Karl Barth bedauert, dass die Kirche sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus nicht mit den sozialistischen Parteien verbunden hat. Im Februar 1945 findet im Hause Barths eine Begegnung der hauptsächlich aus Kommunisten und Sozialdemokraten bestehenden Bewegung ‚Freies Deutschland‘ mit Vertretern protestantischer Emigranten statt. Eine der Folgen dieser Begegnung war, dass Charlotte von Kirschbaum, Barths Sekretärin, mit völliger Zustimmung Barths dem Vorstand dieser Bewegung beitrat.
Die Gemeinde Gottes, freigesprochen durch das Evangelium, freigestellt zum Neuanfang des Lebens, ist der Weg der Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit, der Weg der Freiheit in der Gebundenheit, der Realität der auf Versöhnung gegründeten Gemeinschaft in dem Richtgeist der Menschen. Der Verheißung ihres Herrn gemäß ist sie die Stadt, die auf dem Berge liegt. Es ist Unglaube, wenn sie ihr Pfund begräbt und sich damit der Verheißung begibt, die Gott selbst der Kirche zum Heil der Menschen anvertraut hat.
Gedanken aus dieser und aus der folgenden Thesen wurden im definitiven Text zu einer (6.) These zusammengefügt. Von dieser sechsten These Iwands ist nur der ersten Satz – sei es völlig anders formuliert – bewahrt geblieben: „Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen, besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen“. Das ist buchstäblich die Formulierung der fünften These Karl Barths. In diesem Fall muss ich sagen, dass ich verstehe, weshalb man hier der Formulierung Iwands nicht gefolgt ist. Barth spricht vom Auftrag der Kirche, Iwand sagt, was die Kirche auf Grund ihrer Freisprechung und ihres Neuanfangs ist, und auch wenn das nicht beabsichtigt ist, hört sich das schon wieder an als eine triumphierende Kirche. Der Formulierung Iwands ist eigentlich nur akzeptabel, wenn man den ersten Teil des Satzes als Bedingung liest: Wenn die Gemeinde freigesprochen wird durch das Evangelium (was Schuldbekenntnis und Rechtfertigung voraussetzt) und darin freigestellt wird zum Neuanfang des Lebens, dann ist sie…. Der Nachdruck auf den Neuanfang, durch den das Gewicht des Schuldbekenntnisses geringer zu werden scheint, hat hier natürlich damit zu tun, dass Iwand die Kirche aufrufen will zu einem aktiven Auftreten im politischen Leben des deutschen Volkes. Sie soll sich befreien von Hoffnungslosigkeit, Gebundenheit und Richtgeist, aber sie kann sich selbst nicht befreien, sie kann nur ihre Schuld bekennen und hoffen und beten von ihr freigesprochen zu werden, nicht durch das Evangelium, sondern durch den Gott Israels, der auch der Gott des Evangeliums ist. Im zweiten Satz – der also nicht ins Darmstädter Wort übernommen worden ist – wird (und das ist richtiger) von der Gemeinde gesagt, was sie ‚gemäß der Verheißung ihres Herrn‘ ist. Es folgt erst eine Anspielung auf Matthäus 5, 14: „Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein“ und anschließend wird auf das Gleichnis der Pfunde in Luk. 19, 11-27 hingewiesen. In der Kombination dieser Texte wird deutlich, was Iwand meint: Die Kirche soll sich nicht verstecken, sondern auch im politischen Leben sichtbar und aktiv sein.
7.
Nicht Rückkehr zum Christentum, sondern Umkehr zu Gott durch das Evangelium ist uns geboten. Nicht die Rettung der Welt ist die Aufgabe der Christenheit, sondern die Reformation der Christenheit ist die Rettung der Welt. Darum rufen wir alle, die es zu glauben vermögen, auf: Bezeugt die wohltätige und befreiende Herrschaft Jesu Christi im Dienst an seiner ganzen Schöpfung. Erkennt, daß der Staat zu seinen Geschöpfen gehört, dazu bestimmt, zur Ehre Gottes und zur Wohltat, zum Glück und zum Frieden unter den Menschen zu dienen.
Auch hier wurde letztendlich die Formulierung Barths gewählt. Der zweite Teil der sechsten These des Darmstädter Wortes lautet (die sechste These in der Fassung Barths etwas variierend): „Nicht die Parole: Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst nottut“. Im Großen und Ganzen war Niemöller der Formulierung Iwands gefolgt und hat sie als seine abschließende (achte) These benutzt. „Nicht Rückkehr zum Christentum“ muss, genauso wie Barths Verweisung auf ‚Christentum und Abendländische Kultur‘, als Kritik an der in diesen Tagen gegründeten CDU, die sich basierte auf „Naturrecht, christliche Ethik und abendländische Kultur“, verstanden werden. Die Paradox im zweiten Satz ist stark, aber hier bleiben ‚Christenheit‘ und ‚Rettung der Welt‘ miteinander verbunden und das sollte man vielleicht so kurz nach dem völligen Versagen der deutschen ‚Christenheit‘ lieber nicht tun. Ich wage es ganz vorsichtig zu behaupten, dass nicht die ‚Reformation der Christenheit‘ sondern die ‚wohltätige und befreiende Herrschaft Jesu Christi‘ die Rettung der Welt ist. Dass der Staat ein Geschöpf Gottes ist, würde ich auch nicht einfach so wiederholen, weil ich mich von jeder Nähe zur ‚Schöpfungsordnungen‘ fernhalten möchte. Was dann über diesen Staat gesagt wird (zur Ehre Gottes und zur Wohltat, zum Glück und Frieden unter den Menschen) geht über das hinaus, was in der fünften Barmer These gesagt wird, wo Barth schreibt: ‚Der Staat hat nach göttlicher Anordnung für Recht und Frieden zu sorgen‘. Wenn Bonhoeffer in seiner Ethik über die Mandate schreibt, nennt er: Arbeit, Ehe, Obrigkeit und Kirche[38]und sehr bewusst nicht ‚Staat‘. Auch hier verstehe ich, weshalb man sich nicht für die Formulierung Iwands entschieden hat, aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch tatsächlich auf Grund dieser oder ähnlichen Kritik basiert war.
8.
Wir sehen mit Sorge, daß uns bis heute die rettende und befreiende Umkehr unseres Volkes zu neuem, freundlichem Dienst am Aufbau eines freien, seines Namens und seiner Gaben würdigen Deutschland nicht geschenkt ist. Wir geraten in Gefahr, aus einer falschen, weil natürlichen und nicht aus Gott geborenen Liebe zu unserem Volk heraus, seine in der Welt zerbrochenen und zerschlagenen Hoffnungen und Träume religiös zu pflegen und wirksam zu erhalten. Wir verhelfen ihm dadurch zu einer Flucht vor der unabweisbaren diesseitigen Verantwortung in Staat und Gesellschaft ins Elendsland der Religion.
Auch diese These wurde nicht im Darmstädter Wort aufgenommen. Niemöller hat sie beibehalten wollen und in seiner Vorlage sogar als erste These benutzt. Barth hat sie völlig weggelassen und die Redaktionskommission ist ihm darin gefolgt. Ich glaube auch, dass man, wenn man diese These beibehalten möchte, sie besser am Anfang als am Ende stehen müsste. Die Sorge am Anfang und die Hoffnung am Ende ergeben einen stärkeren Text. Der Eröffnungssatz dieser These hört sich zwar fromm an, aber ist vielleicht doch nicht das, was hier gesagt werden sollte. „Die richtigen Ideen fallen nicht vom Himmel“, schrieb der französische Widerstandskämpfer und spätere Theologieprofessor Georges Casalis[39]. Man könnte vielleicht theologisch sagen, dass die Umkehr uns geschenkt werden muss, aber in einem Text über den politischen Weg unseres Volkes, soll lieber gesagt werden, dass dazu etwas getan werden soll. Ob Ausländer in 1947 gerne von der Würdigkeit des Namens Deutschlands hören wollten, ist natürlich fraglich und jedenfalls im Widerspruch zu den gefährlichen Hoffnungen und Träumen dieses Volkes, von denen im nächsten Satz die Rede ist. Ohne das Wort zu gebrauchen, spricht Iwand hier natürlich noch einmal von der Gefahr des Nationalismus. Dass gerade dieses Element seines Textes über die ganze Linie abgeschwächt wurde, ist ein Verlust. Iwand, der selbst an der Redaktion des definitiven Textes mitgearbeitet und der Redaktionskommission sogar vorgesessen hat, hat hiermit eingestimmt. In wie fern ihm das leidgetan hat, wissen wir nicht. Jürgen Seim, Iwands Biograph, berichtet darüber nichts und hat wahrscheinlich auch keine gründliche Studie der Entstehung des Darmstädter Wortes gemacht[40]. Wenn man, wie oben ausführlich deutlich gemacht wurde, die Unterschiede zwischen Iwands Entwurf und dem endgültigen Text sieht, kann man doch kaum behaupten: „In der Hauptsache folgte der endgültige Text dem Entwurf Iwands, mit einigen Verdeutlichungen im Ausdruck. Dazu gehört im letzten Abschnitt das Zitat der zweiten Barmer These.“[41] Es wurde viel mehr geändert und es ging dabei auch nicht nur um Verdeutlichungen. In einigen Fällen war das zurecht, in anderen Fällen war das Schade. Vor allem die damals berechtigte Angst Iwands vor einem neuen Aufleben des Nationalismus oder sogar Revanchismus, ist im endgültigen Text zu wenig zum Ausdruck gekommen. Was Iwand genau gemeint hat mit dem Ausdruck ‚Elendsland der Religion‘ wissen wir nicht. Hartmut Ludwig hat die Abschrift des Entwurfs Iwands aus dem Karl Barth Archiv in Basel benutzt, und darin stand: ‚Niemandsland‘. So hat man es wahrscheinlich damals gehört, weil man das Wort ‚Elendsland‘ nicht verstanden hat (man findet es auch nicht in Duden). Ich bin davon überzeugt, dass Elendsland der Ausdruck gewesen ist, den Iwand tatsächlich benutzt hat[42]. Was man auch von ‚Religion‘ sagen kann, nicht dass sie ‚Niemandsland‘ ist. Nach Analogie mit Wörtern wie ‚Elendsviertel‘ oder ‚Elendsquartier‘ sollte ‚Elendsland‘, dann so etwas bedeuten wie ‚armseliges, aussichtloses Land‘. Er meint dann: Die Kirche muss sich (mit)verantwortlich machen für die politische Entwicklung von Staat und Gesellschaft, sonst kommt sie in eine Sackgasse und kann sie nur noch etwas sagen über den Privatbereich der Menschen. Es scheint mir, dass dies eine noch immer aktuelle Feststellung ist.
Was soll man zum Schluss über das Verhältnis der Texte Bonhoeffers und Iwands sagen? Sie sind mit verschiedenen Zielsetzungen geschrieben und in sehr verschiedenen Zeiten. Was die beiden Texte miteinander verbindet, ist die feste Überzeugung, dass Schuldbekenntnis Bedingung ist für Neuanfang. Es versteht sich, dass in 1941 vor allem das Element des Schuldbekenntnisses überherrschte und in 1947 der Wunsch nach Neuanfang. Das große Defizit des Darmstädter Wortes, um die Schuld den Juden gegenüber nicht zu benennen, ist zu erklären, vielleicht sogar zu verstehen, aber nicht zu rechtfertigen.
[1] Wilken Veen, “Kerkstrijd een verhaal zonder einde” in Eltheto 1976, Zeist NL.
[2] Hartmut Ludwig, „Das Darmstädter Wort von 1947 – Potential für die Zukunft der EKD“ in: Hermann Düringer u.a. Hg.., Das Erbe der Bekennenden Kirche und die ‚Kirche der Freiheit‘, Hanau 2010.
[3] Wilken Veen, Verzoening in de praktijk?, Zoetermeer 2004.
[4] A.a.O, pag. 47. Das Wort ‚Pharisäer‘ in der Bedeutung von ‚Heuchler‘ ist übrigens ein Beispiel vom unbewussten Antisemitismus in unserer (sowohl deutsche wie auch niederländische) Sprache.
[5] Deutsche Übersetzung zitiert aus: Martin Greschat (Hg.), Die Schuld der Kirche, München 1982, S. 29-30.
[6] Gerhard Besier / Gerhard Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985, S. 130-131.
[7] In dem von Martin Greschat herausgegebenen Buch, Die Schuld der Kirche, werden mehrere Beispiele abgedruckt (S. 110-117).
[8] Dieser Begriff wurde später sehr verschieden interpretiert: Wurm und Asmussen betonten, dass es sich hier um Solidarität mit den Schuldigen handelt, Niemöller hat – in einem Vortrag in Erlangen am 22. Januar 1946 und viele Male nachher – gesagt: „Wir haben gesagt, wir fühlen uns schuldig“.
[9] Eberhard Bethge hat das jedenfalls so verstanden und man sieht das auch in seiner Ausgabe der Ethik von 1948 (1. Druck) und 1962 (6. erneuerte Druck). Dass man Bethges Anordnung der Texte in den Dietrich Bonhoeffer Werken nicht übernommen hat bedeutet nicht, dass man meinte, dass Bethge nicht recht hatte, aber man hat einfach alle Fragmente ohne Nummerierung und mit gleicher Buchstabengröße in chronologischer Reihenfolge aufgenommen.
[10] Alle Zitate aus Bonhoeffers Ethik sind aus der Ausgabe der Dietrich Bonhoeffer Werke (Band 6, Ethik) entnommen. Sie werden im Text mit Seitennummer zwischen Klammern angegeben.
[11] Das zeichnet auch das Spezifische an der Ethik Bonhoeffers aus. Er schreibt nicht eine Ethik, die in den kommenden Jahrzehnten als Lehrbuch benutzt werden kann. Er schreibt, so hat er es jedenfalls selbst gegenüber seinem Untersuchungsrichter formuliert, auf Anfrage seiner Kirche, im Anschluss an sein Buch über die Nachfolge, eine ‚konkrete Ethik‘.
[12] Abgedruckt in der Ethik-Ausgabe Bethges von 1949, S. 5.
[13] Im Kapitel über die Geschichte und das Gute nennt Bonhoeffer drei Bibelteile, die ethisch von besonderem Gewicht sind: Der Dekalog, die Bergpredigt und die apostolische Paränese (S. 282). Wir dürfen annehmen, dass Bonhoeffer geplant hat diese drei Texte auch ausführlich in seiner Ethik zu kommentieren. Leider hat er nur einige Fragmente davon realisieren können. Zweimal (S. 79 und S. 288) erinnert er an eine Aussage Luthers, dass der Christ „neue Dekaloge“ schreiben soll: „Im Gehorsam befolgt der Mensch den Dekalog Gottes, in der Freiheit schafft der Mensch neue Dekaloge“. Damit gibt Bonhoeffer einen Hinweis auf welche Weise er diese zentralen Texte aktualisieren will.
[14] Das Wort wird von Bonhoeffer nicht benutzt, so wie er auch nicht öffentlich über die Judenverfolgung spricht. Hätte er das getan, dann wäre der Besitz dieses Textes für ihn und für jeden anderen (z. B. seinen oft mitlesenden Freund Eberhard Bethge) lebensgefährlich gewesen. Ich hoffe aber deutlich zu machen, dass diese Kritik implizit aber unübersehbar im Text anwesend ist, und an diesem Problem nicht vorbeigegangen wird, wie es wohl in den Barmer Thesen und im Darmstädter Wort der Fall war.
[15] In August 1935 erschienen in der Zeitschrift `Evangelische Theologie´ (II. Jhrg. Heft 7, 245-262). Hier zitiert aus DBW 14, 378-399.
[16] Aufgenommen in Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1933-39, S. 315f.
[17] Man soll hier bedenken, dass Bonhoeffer schon in 1933 in „Kirche vor der Judenfrage“ geschrieben hat, dass die Versorgung der Opfer der Staatsgewalt immer Pflicht der Kirche ist.
[18] Im Niederländischen Kirchengesangbuch gibt es ein Lied von Jan Wit dessen dritte Strophe lautet:
Heer, wij gedenken U; laat ons dan nooit vergeten / de mensheid zonder God, de mensheid zonder brood. / Het bloed van Abel roept nog steeds tot ons geweten. / Wie ’t zingend overstemt is Kains deelgenoot.
Auf Deutsch: Herr, wir gedenken Dir; lasst uns dann nie vergessen / die Menschheit ohne Gott, die Menschheit ohne Brot. / Das Blut Abels ruft noch immer zu unserem Gewissen / Wer es singend übertönt ist Kains Komplize.
[19] DBW 13, 129.
[20] DBW 12, 242-260
[21] DBW 12, 508-509
[22] Wie bekannt, haben sowohl sich Martin Niemöller als auch Karl Barth darüber nach dem Krieg geäußert. Niemöller sagte, dass man in seinen Kreisen „noch keine Krawatte“ von einem Juden kaufen wollte und Barth gestand, dass er sich in Anwesenheit von Juden immer etwas unbequem gefühlt hat. Kirche und Synagoge waren zwei völlig verschiedene Welten, man kannte einander nicht und war (deshalb) einander gegenüber argwöhnisch.
[23] DBW 8, Widerstand und Ergebung, S. 402-403.
[24] Idem, S. 405.
[25] Es sind Texte in seine Ethik aufgenommen, von denen wir uns nachher fragen können, ob sie auch für diese gedacht waren, aber hier gibt es eigentlich keinen Zweifel. Dieser Text gehört organisch in den Zusammenhang, in den er aufgenommen ist, und er gehört zu jenem Teil der Ethik, von dem wir – anders als bei den späteren Kapiteln – annehmen dürfen, dass Bonhoeffer ihn als mehr oder weniger abgeschlossen gesehen hat.
[26] Jürgen Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biographie, Gütersloh 1999, S. 175.
[27] Wilhelm Niemöller, Die Synode zu Steglitz, Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes 23, Göttingen 1970.
[28] Das war Bonhoeffer natürlich auch nicht, aber ich verstehe diese Aussage Iwands so, dass er damit sagen wollte, dass er nicht von Anfang an Gegner dieses Krieges gewesen ist.
[29] Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biographie, S. 334.
[30] Hartmut Ludwig schrieb in 1977 zur Vorbereitung der oben genannten Versammlung europäischer Christen nach Anlass des dreißigsten Jahrestages des Darmstädter Wortes eine Broschüre „Die Entstehung des Darmstädter Wortes“, die als Beiheft zu Heft 8/9 der Zeitschrift „Junge Kirche“ herausgegeben wurde.
[31] Aufgenommen in Karl Barth, Die lebendige Gemeinde und die Freie Gnade, Th. Ex. NF 9, München 1947, S. 3 bis 23.
[32] Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biographie, zitiert Iwand: „Wir müssen einmal das heiße Eisen des Nationalismus anfassen. Es geht nicht, daß wir auf zwei Rechnungen wirtschaften: Hier sind wir Christen und hier sind wir Nationalisten! Wir dürfen uns heute nicht aufteilen lassen, auch nicht politisch in Ost und West.. Die BK muß eine politische Linie haben… wir müssen heute vom Bruderrat aus sagen: wir gehen einen neuen Weg. (S. 332).
[33] Hartmut Ludwig, a.a.O, S. 2.
[34] Ich zitiere den Entwurf Iwands aus: Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirchen unterm Hakenkreuz, Köln 1987, S. 174-176.
[35] Rosemarie Müller-Streisand, „Darmstadt, die Probe auf den Kirchenkampf“, Neue Stimme 1987,9 , S. 5-11.
[36] Komplett zitiert in Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen, S. 216-240.
[37] Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen, S. 176.
[38] Bonhoeffer DBW 6, Ethik, S. 55.
[39] Georges Casalis, Die richtigen Ideen fallen nicht vom Himmel, Stuttgart 1980. Übersetzung von: Les idees justes ne tombent pas du ciel, Paris 1979.
[40] Obwohl er Hartmut Ludwigs Beschreibung dieser Geschichte im Beiheft der Jungen Kirche (genannt auf S. 332 seines Buches), gekannt hat.
[41] Jürgen Seim, Hans Joachim Iwand, eine Biographie, S. 334.
[42] Iwand war ein überzeugter Schüler Karl Barths, und hat dessen Aussagen über „Religion als Unglaube“, aus KD II/1 (1938), bestimmt gekannt.